Künstlerische
Grenzüberschreitungen von Dada
bis Christoph Schlingensief
von Christoph Krahl
Der vorliegende Text verfolgt in Form einer historischen
Entwicklungslinie die ästhetischen Norm- und Konventionsbrüche anhand von
exemplarisch ausgewählten Kunstströmungen und Einzelkünstlern vom Beginn des 20. Jh. bis heute.
Den thematischen Anstoß lieferte dabei eine Begegnung mit dem deutschen Aktionskünstler, Regisseur und Theatermacher Christoph Schlingensief bei den Proben zu »Chance 2000« im Berliner Prater 1999 und die These: »Natürlich ist er nicht der erste ›Antikünstler‹.
Dada, die Situationisten, Fluxus, Joseph Beuys lassen grüßen.«[1]
Schlingensief, der im August 2010 verstorben ist, hat mit seinen künstlerischen Grenzgängen und crossmedialen Inszenierungen immer wieder für öffentliches Aufsehen gesorgt und den geltenden Kunstbegriff in Frage gestellt.
Unter dem
etwas diffusen Begriff »Anti-Kunst« soll innerhalb der Avantgarde-Bewegungen
nach Anknüpfungspunkten gesucht werden, die zwischen der künstlerischen
Position Christoph Schlingensiefs und historisch weiter zurückliegenden Konzepten bestehen.
Den Hintergrund für die Auswahl der zu untersuchenden Phänomene bildet die grundlegende Gemeinsamkeit aller Richtungen, traditionelle Formen der Kunst radikal abzulehnen und existierende Konventionen zu überwinden. So wendet sich das erste Kapitel zunächst einer thematischen Eingrenzung des Gegenstandsbereichs zu, das sich – mehr beschreibend als definitorisch – mit den Begriffen Anti-Kunst und Avantgarde auseinandersetzen will. Bewußt wird im Untertitel die Wendung »performative Tendenzen« verwendet, da es sich bei dieser Untersuchung anti-künstlerischer Konzepte im Speziellen um darstellende Formen von Kunst handelt. Es gilt dabei nachzuweisen, daß eine herkömmliche Kategorisierung in den literaturwissenschaftlichen Bereich des Theaters zu einem falschen Eindruck führen würde, da normative Gattungsgrenzen von den Künstlern eindeutig überschritten werden. Die Untersuchung konzentriert sich unter diesem Aspekt auf die Vorstöße von Künstlern, die ihre Neuerungskonzepte zumeist nicht im Rahmen des konventionalisierten Kunstsystems durchführen, sondern radikale Brüche im Hinblick auf den Rezipienten, den Kunstmarkt und vor allem den Kunstwerk-Begriff erzeugen wollen. Es wird zu zeigen sein, daß die Arbeitsweise der Künstler eine Vermischung von Elementen der Bereiche Literatur, darstellender bzw. bildender Kunst und Musik aufweist. Diese Synthese hat aus heutiger Sicht zur Entstehung neuer Kunstformen beigetragen und den umfassenden Kunstbegriff nachhaltig beeinflußt.
Der Zeitraum dieser ›Spurensuche‹ ist weit gefaßt und beginnt mit dem Aufkommen des Futurismus zu Anfang unseres Jahrhunderts, thematisiert Teilaspekte der Aktionskunstbewegung der sechziger Jahre und endet mit der Vorstellung des deutschen Gegenwartskünstlers Christoph Schlingensief. Um einen überblick der Genese dieser anti-künstlerischen Tendenzen im 20. Jahrhundert geben zu können, müssen einige – zugegebenermaßen wichtige – Künstler und Gruppenbewegungen vernachlässigt oder gar weggelassen werden, die in einer weitergehenden Betrachtung berücksichtigt werden müßten. Als Beispiele sind hier vor allem Marcel Duchamp, Kurt Schwitters, die Surrealisten, Joseph Beuys, die Wiener Gruppe und die Situationisten zu nennen, die lediglich an manchen Stellen erwähnt werden können, um ein Ausufern der Arbeit zu verhindern. Diese inhaltliche Beschränkung wird durch den konzentrierten Blickwinkel auf aktionsorientierte bzw. performative Ansätze noch zusätzlich vergrößert.
Ganz bewußt stützt sich die Argumentationsweise unter dieser Perspektive auf keine spezielle Theorie oder literaturtheoretischen Ansatz. Es wird vielmehr der Versuch unternommen, die behandelten Phänomene in ihren zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen und an den spezifischen Konzepten die Abweichungen und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die aber das allen gemeinsame Ziel einer Annäherung von Kunst und Lebenspraxis verfolgen. Die enge Verschränkung zwischen antikünstlerischen Konzepten und des ›Kunst-ins-Leben‹-Gedankens knüpft den sprichwörtlichen »roten Faden«, welcher nachverfolgt werden soll. So bilden Futurismus und Dada, als zwei ausgewählte Repräsentanten der historischen Avantgarde, den Untersuchungsgegenstand des zweiten Kapitels, während im dritten Kapitel die aktionsorientierten Bewegungen Fluxus und Happening mit dem Orgien Mysterien Theater von Herman Nitsch in Beziehung gesetzt werden soll. Das abschließende Kapitel widmet sich der künstlerischen Entwicklung von Christoph Schlingensief, vor allem seiner Regiearbeit an der Berliner Volksbühne und seinen öffentlich durchgeführten Aktionen, was an repräsentativen Beispielen vorgestellt und untersucht werden soll. In Schlingensiefs bisherigem Werk zeichnet sich unter den Hauptthemen Anti-Kunst und einer Inbeziehungsetzung von Kunst und Leben eine scheinbare Synthetisierung der historischen Vorläufer ab, die seine Inszenierungsweise immer stärker vom normierten künstlerischen Rahmen loslöst und mehr in eine Gestaltung alltäglicher Bereiche und Situationen des Lebens übergeht. Auch wenn Joseph Beuys nicht intensiver diskutiert werden wird, kann man Schlingensiefs Anspruch an Kunst in einen direkten Zusammenhang zu dem beuysschen Konzept der »sozialen Plastik« und Wolf Vostells Leitsatz: »Kunst ist Leben, Leben ist Kunst« sehen. Die Schlußbetrachtung wird versuchen, diese – als Thesen zu verstehende – Wechselbeziehungen nachzuverfolgen.
1.1. Anti-Kunst ≠ Nicht-Kunst?
Eine Geschichte der künstlerischen Avantgarde des 20.
Jahrhunderts nachzuzeichnen, verlangt – bedingt durch die
heterogenen Phänomene der verschiedenen künstlerischen Gruppen- und
Einzelbewegungen – zunächst eine Problematisierung des
Gegenstandsbereichs. Denn das Verständnis dessen, was unter dem Begriff
Avantgarde kategorisiert wird, ist der diffusen Diskussion über die Moderne
oder Postmoderne vergleichbar. Generell werden spezifische literarische,
musikalische, architektonische und Strömungen innerhalb der bildenden
Kunst unter dem Begriff Avantgarde subsumiert. Dies macht eine engere Umgrenzung
des Begriffs, der ursprünglich einem militärischen Kontext entstammt[2],
nicht gerade einfacher. »Als Avantgardisten verstehen sich Künstler und
Literaten, die mit einem progressiven Programm formal und inhaltl. in
Opposition zu den bestehenden literar. und gesellschaftl. Konventionen
treten.«[3]
Dieser Definitionsversuch kann in seiner Verallgemeinerung auch
auf das, was im Folgenden unter Anti-Kunst verstanden wird, angewendet werden.
Es wird das Problem zu diskutieren sein, woran sich die in der Definition
angesprochene Progressivität äußert und in den verschiedenen reformativen
Avantgardebewegungen von einer anti-künstlerischen Programmatik
abweicht, sofern dies überhaupt der Fall ist. In der Definition wird schon
darauf verwiesen, was in einer Untersuchung des Gegenstandsbereichs
deutlich hervorgehoben werden muß. So ist zunächst werkimmanent
zu trennen, wo formale und inhaltliche Brüche zu den konventionalisierten
Formen zu beobachten sind. Tauchen im zu untersuchenden Gegenstand
beide Oppositionen gleichzeitig auf oder verfolgt das jeweilige Gegenmodell
nur einen dieser Aspekte? Genauer gefragt: Bricht das avantgardistische
Theaterkonzept nur formal mit traditionellen Dramenkonventionen,
indem zum Beispiel die Bühnengestaltung oder Funktionalität des
Schauspielers verändert wird, oder gibt es auch inhaltliche Brüche, die die
literarische Vorlage und den geschlossenen Ablauf der Handlung
betreffen? Auf dieser Ebene müssen in einer Analyse des zu untersuchenden
Phänomens zunächst beide Aspekte deutlich voneinander getrennt
werden, um die verschiedenen avantgardistischen Strömungen
gegeneinanderstellen zu können. Weiter gilt es zu beobachten, ob die
jeweilige Programmatik ausschließlich auf kunstimmanente Konventionsbrüche
ausgerichtet ist oder gleichzeitig auf außerkünstlerische
Bezüge, wie beispielsweise soziale, politische und gesellschaftliche
Rahmenbedingungen rekurriert.
Eine Kategorisierung der künstlerischen Konzepte im
Verlauf des 20. Jahrhunderts verlangt also nach einem
differenzierteren Umgang mit den häufig verwendeten Begriffen Anti-Kunst, Abstraktion,
Moderne und Avantgarde, als dies teilsweise in entsprechenden
Publikationen vorzufinden ist. Dies soll nicht bedeuten, daß im Folgenden
verbindliche Definitionen der Begriffe geliefert werden, da eine explizite
Abgrenzung nicht den Anspruch auf die vollständige Beschreibung und Klärung des
jeweiligen Phänomens erheben könnte. Sinnvoller scheint es, den Rahmen
einzugrenzen und zu untersuchen, welcher Problembereich durch den
entsprechenden Begriff beschrieben werden soll und in wie weit sich undeutliche
begriffliche überschneidungen in deren Verwendung eingebürgert haben. So
dokumentiert z. B. Heinz Ohff in seinem Buch Anti-Kunst: »In Frankreich und in
den angelsächsischen Ländern spricht man von Non-Art.«[4] Die wörtliche
übersetzung ins Deutsche – also ›Nicht-Kunst‹ – wäre für den hier
zu behandelnden Gegenstandsbereich Anti-Kunst allerdings sehr mißverständlich,
da es sich, wie noch nachzuweisen ist, bei Anti-Kunst »doch eher um eine
Gegnerschaft zu Vorhandenem als um eine Verleumdung«[5] handelt. Die
Gegnerschaft zu Vorhandenem meint in diesem Zusammenhang die Gegnerschaft
zu künstlerischen Normen, zum vorgefundenen Kunst- und Kulturbetrieb,
meist eben auch eine Anti-Haltung zur politischen und sozialen Gesellschaftsordnung.
Durch das entschiedene Gegensteuern soll versucht werden, diese
bestehenden Ordnungen zu überwinden und aufzulösen. Im Gegensatz zu einer
Kunst, die ihre Existenz allein aus dem ›Kunstwillen‹ heraus definiert –
so wäre hier beispielsweise der ästhetizismus der Symbolisten anzuführen
– sucht eine Anti-Kunstbewegung nach einer neuen Funktionalität von
Kunst, die über das Kunstsystem hinaus weiterreichende Konsequenzen hat.
Dies führt zu einem weiteren Aspekt von Anti-Kunst, der nicht selten
mißverständlich gesehen wird: die Anti-Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts
müssen als unabhängig von reformativen Strömungen innerhalb der Avantgarde
betrachtet werden, da Reformbewegungen konventionalisierte
Kunsttraditionen aus einem kunstimmanenten, gegenstandsfixierten
Blickwinkel heraus modifizieren wollen, sich aber nicht kategorisch gegen das
normierte System Kunst wenden. Die Bühnenarbeit am Bauhaus in den zwanziger
Jahren beispielsweise hat sich nicht generell gegen das Theater ausgesprochen,
sondern – wie dies der Mitinitiator der Bauhaus-Bühnenwerkstatt
Oskar Schlemmer ausdrückt – für eine Reformierung eines Theaters, das der
Zeit nicht mehr entspricht. So ist er überzeugt, daß »[...] das Theater unserer
Zeit [gemeint sind die zwanziger Jahre des 20. Jh., Anm. d. Verf.] nicht mehr
genügen kann, [...] daß es den menschlichen, gesellschaftlichen und
künstlerischen Anforderungen der Zeit nicht gerecht wird und vor
allem als optisches Erlebnis veraltet und verstaubt ist.«[6]
Dies belegt, daß die Reformierung des
Vorgefundenen meint, lediglich den Aspekt der Gewichtung zu ändern, wie am
Beispiel der Bauhaus-Bühne das Optische, der Tanz und die Bühnengestaltung
stärker in den Vordergrund gerückt werden. Das psychologisierende Moment
des naturalistischen Theaters, der Schwerpunkt auf der Simulation von
Wirklichkeit durch das Spiel wird zwar radikal abgelehnt, aber das Figuren- und
Tanztheater erfüllt am Bauhaus gesellschaftlich und im Kulturbetrieb
die gleiche künstlerisch autonome und unterhaltenende Funktion, wie das
expressionistische und naturalistische Theater. Die formale und
inhaltliche Geschlossenheit des Stücks bleibt von der Reformierung letzlich
unangetastet. Natürlich kann man die Demarkationslinie zwischen reformorientierter
Avantgarde-Bewegung und Anti-Kunst nicht absolut ziehen. Denn zwischen
einer revolutionären Anti-Bewegung, deren Programmatik theoretisch die
bestehenden Normen überwindet und deren künstlerisch-praktischen
Manifestationen bestehen oftmals erhebliche Diskrepanzen. Zwar
fordert Marinetti in seiner programmatischen Schrift des italienischen
Futurismus Gründung und Manifest des Futurismus von 1909 die Zerstörung
der Museen, Akademien und Bibliotheken, jedoch registriert Enno Stahl an dieser
frühen Anti-Kunst-Bewegung noch eine klaffende Lücke zwischen theoretischer
Forderung und der literarischen Umsetzung:
»So ist es nötig, zum Verständnis von Texten und Programmen
der italienischen Futuristen die politisch und kulturell statische Lage im
damaligen Italien zu sehen, um begreifen zu können, warum trotz äußerster
Radikalität in Manifest und Gestik keine äquivalente anti-literarische Praxis
entstand [...].«[7]
Gleiches schreibt er dem russischen Pendant zu: »Im
russischen Futurismus also trat Anti-Kunst zwar auf, aber ohne derart manifest
zu werden; sie war mehr eine Art Durchgangsstadium [...]«[8] Diese These wird im Folgenden noch zu
überprüfen sein.
Die praktische Realisierung einer theoretisch formulierten
anti-künstlerischen Position liegt offensichtlich in der Destruktion tradierter
Formen und vor allem in der Zerstörung des geschlossenen Werkbegriffs, wobei es
bei dieser allgemeinen Feststellung zunächst unerheblich ist, welches
künstlerische Medium oder welche spezifische Gattung gemeint ist. Anti-Kunst
beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Medium, eine Kunstrichtung oder
Gattung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist sie vielmehr der zentrale und
konstitutive Ausgangspunkt für die verschiedenen avangardistischen und
abstrakten Strömungen, deren Einfluß auf die heutige Kunst, sei es
bildende Kunst, Literatur oder Musik,
wichtig ist und immer noch Nachwirkungen zeigt. Die Emanzipation bzw.
Loslösung von tradierten, normativen Kategorien, wie dem
geschlossenen Kunstwerk, dem autonomen Künstler, dessen Schaffen losgelöst
von lebenspraktischen Funktionen nur der ästhetisierung und Erbauung
dient, ist der eingeschlagene Weg, um die Kunst, den Künstler und den
Kunstbetrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikal umzuwälzen. Die
generelle Aufbruchstimmung nach der Jahrhundertwende, mitbedingt
durch die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen
– vor allem das auf alle Lebensbereiche einwirkende Industriezeitalter
–, kulminiert aber erst im Dadaismus zu einer wirklichen Anti-Kunstbewegung,
in der sich nicht nur die Vorläufer in Manifesten spiegeln, sondern mit einer
revolutionär-künstlerischen Praxis in Einklang gebracht werden:
»Dada, die erste Anti-Kunst-Revolte der Geschichte, ist nicht ›wie ein Blitz
aus heiterem Himmel‹ eingeschlagen, wie es die Dadaisten gern darstellen.«[9]
Oder wie es Enno Stahl ausdrückt:
»Marinettis Maximen werden schnell von den folgenden Bewegungen
aufgegriffen: mit jeweils anderen Spezifika im russischen Futurismus
und eben von DADA als Inbegriff einer anti-künstlerischen Bewegung.«[10]
Generell läßt sich zur Identifikation anti-künstlerischer
Bewegungen und in Abgrenzung zu avantgardistischen Reformbewegungen
zunächst der Wille zur Vernichtung der vorgefundenen Verhältnisse festhalten.
Der Begriff der ›Vernichtung‹ muß an dieser Stelle jedoch relativiert
werden, da sich eine anti-künstlerisch motivierte Destruktion in zweierlei Hinsicht
an dem vorgefundenen Kunstsystem orientiert: Der Gestus der Zerstörung
geht von Einzelnen oder einer Gruppe aus, die selbst diesem ›System‹ angehören
und unter den selbst umrissenen, veränderten Bedingungen auch weiter einen Teil
dieses Systems repräsentieren. In der Konsequenz meint dies also nicht die
Motivation zur generellen Abschaffung von Kunst, sondern eine veränderte
Form von Kunst an die ursprüngliche Stelle zu setzen. Destruktion bildet damit
den Ausgangspunkt einer Erneuerung, die die anti-künstlerischen Derivate, wie
zum Beispiel Montagetechnik, Abstraktion des Gegenstands von der
Wirklichkeit, offener Werkbegriff, etc. aus heutiger Sicht
konstitutiv für die Kunst unseres Jahrhunderts macht. In Anlehnung an den
politischen Revolutionsbegriff wäre die Programmatik vergleichbar mit
einer Revolutionsbewegung, die die alten Strukturen erst vollständig vernichten
muß, um in einem zweiten Schritt ein neues System einsetzen zu können.
Anhand der russischen Revolution kann man die Kopplung zwischen
politischer und künstlerischer Revolution sehr deutlich nachzeichnen,
indem die nachrevolutionäre neue Gesellschaftsordnung ein ebenfalls neues
Kunstsystem erfordert und wechselseitige Beeinflussungen bestehen. Destruktion
als Selbstzweck bzw. nicht-konstruktive Vernichtung, wie man es einer terroristischen
Bewegung unterstellen könnte, richtet sich auf die kalkulierte Zerstörung
einzelner Teile eines Systems aus, um das grundlegende Funktionieren des
Systems zu stören.
Zudem orientiert sich Anti-Kunst an der ›konventionellen‹
Kunst, da sie mit den »Mitteln der Kunst«[11] operiert. Ein
dadaistisches Gedicht bricht zwar formal und inhaltlich mit lyrischen
Konventionen, bleibt aber über die gedruckte Form und der Zuordbarkeit zur
Gattung der Lyrik letztlich immer noch ein Gedicht. Bildmontagen
von Hannah Höch oder Raoul Hausmann bleiben trotz ihres revolutionären
Bildkonzepts letztlich doch immer noch Bilder, die man bei selbstorganisierten
Dada-Abenden in traditioneller Weise ausstellt.
Wie schon angesprochen wurde, richtet sich der
anti-künstlerische Blick nicht allein auf das System Kunst. Die
gesellschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen spielen
neben rein ästhetischen Kategorien für die anti-künstlerische
Programmatik eine ebenso wichtige Rolle, da sie für den Kunstbetrieb gleichwohl
konstitutiv sind: »Es geht nicht nur gegen die Idee von Kunst, sondern
zugleich um die Attacke auf die Organe ihrer gesellschaftlichen Vermittlung
– die Kulturindustrie, den Verteilungsapparat.«[12]
Als dritter Aspekt kommt hinzu, daß versucht wird, die Kunst
ihres autonomen Status innerhalb der Gesellschaft zu entbinden,
der künstlerischen Produktion eine lebenspraktische Funktion zuzuweisen.
Dies bedingt eine strikte Abkehr vom l'art-pour-l'art-Prinzip, mit dem
sich beispielsweise die Symbolisten eben dieser Bindung bewußt
entzogen und den Höhepunkt einer absoluten Kunstautonomie bezeichnet
haben: »Auf breitester Basis exerzieren die Künstler Möglichkeiten
neuer künstlerischer Produktion und Gestaltung des Lebenskontextes
vor – gegen den überkommenen ästhetizismus und getreu den revolutionären
Implikationen.«[13]
Nach dieser These scheint es notwendig, die anti-künstlerisch motivierte
Haltung nicht nur an den ästhetischen Traditionen zu messen, mit denen in
radikaler Weise gebrochen werden soll, sondern eben auch die
gesellschaftlichen Randbedingungen und den Kunst- und Kulturbetrieb miteinzubeziehen.
Anti-Kunst, die in lebenspraktische Bereiche eindringen will, muß konsequenterweise
auch mit der Lebenspraxis gemessen werden. Ein differenzierter Blick auf
eine anti-künstlerische Bewegung, die sich gegen eine vorherrschende
Kunstrichtung wendet, sollte sich nach drei Fragestellungen organisieren:
1. Wie sehen die
ästhetischen Konventionen und Normen der vorherrschenden Kunst aus,
gegen die sich die anti-künstlerische Bewegung wendet?
2. In welcher
Form ist der Kunst- und Kulturbetrieb organisiert und bedingt somit die
künstlerische Produktion?
3. Wie ist der
soziale und politische Rahmen strukturiert, und in welcher Form wird er in das
anti-künstlerische Konzept miteinbezogen?
Diese Dreiteilung ist nun nicht kategorisch oder starr
übertragbar auf eine Betrachtung anti-künstlerischer Phänomene zu
verstehen. Sie ist vielmehr als ein Versuch zu verstehen, auf einer
allgemeineren Ebene von vorne herein klarzumachen, daß eine Analyse oder
Betrachtung weitergehen muß, als nur den Gestus der Destruktion rein
ästhetischer Normen zum alleinigen Maßstab zu erheben. Darüberhinaus
existieren gesellschaftliche, soziale und politische Faktoren, die den
Drang zur Destruktion konventioneller Kunst mitbestimmen und am revolutionären
und radikalen Pathos der Futuristen und Dadaisten ablesbar sind. Destruktion
sollte nicht als reiner Selbstzweck gesehen werden bzw. als Motivation der
Anti-Haltung, denn die Eleminierung traditioneller Strukturen ist zielgerichtet
und beinhaltet gleichzeitig auch ein neues Konzept.
In Abgrenzung zu künstlerischen Reformkonzepten soll
also festgehalten werden, daß es sich bei Anti-Kunst um den Versuch einer
›revolutionären‹ Umwälzung der bestehenden Verhältnisse handelt. Damit
sollte deutlich werden, daß die inhaltlichen Zuschreibungen an die Begriffe Moderne
und Avantgarde nicht mit Anti-Kunst gleichgesetzt oder in Analogie zu
Reformbewegungen gesehen werden können.
Der Angriff der anti-künstlerischen Bewegungen richtet sich
– wie schon oben erwähnt – gegen die existierenden Konventionen,
die bisher Kunst als Kunst definiert haben und somit die Produktion, die
Distribution und Rezeption von Kunst beeinflussen. Der Angriff richtet sich zu
Beginn dieses Jahrhunderts gegen den bürgerlichen Kunstbegriff, der Kunst mit
der ästhetisierung der Alltagswelt gleichsetzt und das Publikum erfreuen
und unterhalten soll. Diesem bürgerlich funktionalisierten Kunstbegriff wird
eine generelle Folgenlosigkeit unterstellt. Gerade unter den
tiefgreifenden Eindrücken des I. Weltkriegs, der von vielen Künstlern und
Intellektuellen mitgetragen wird, lautet das Gegenkonzept, den rein
ästhetisch legitimierten Kunstbegriff zu überwinden, indem gleichzeitig die
bestehenden gesellschaftlichen Normen angegriffen werden. Diese Form subversiver
Destruktion kann als notwendige Voraussetzung kulturellen
Fortschreitens gesehen werden, da ein Wandel der Werte – im
positiven wie auch negativen Sinn – eine Bewegung initialisiert. Der
Bruch mit dem seit Jahrhunderten akzeptierten Prinzip einer mimetischen
Kunst, ist kein alleiniges Spezifikum der Anti-Kunst; Abstraktion von der vorgefundenen
Wirklichkeit ist ebenso typisch für andere Avantgarde-Bewegungen.
Dada bildet von daher den Ausgangspunkt der Anti-Kunstbewegungen im 20.
Jahrhundert, da mit formaler und inhaltlicher Radikalität der Bruch mit dem
gesamten Kunstsystem herbeigeführt wird. Das grundlegende
Instrumentarium mit denen die Dadaisten arbeiten, bildet einmal die Aktion als
unmittelbarste Vermittlungsform (die dann vor allem in den sechziger Jahren
wieder aufgegriffen wird) und der Bruch mit dem traditionellen Werkbegriff,
durch das bewußte Fragmentarisieren, die Montage und Dekontextualisierung
der Inhalte. Zu recht macht Heinz Ohff darauf aufmerksam, daß dies nicht
unbedingt den Dadaisten allein zuzuschreiben ist.[14] Das Montageprinzip
bzw. die Collage läßt sich innerhalb der bildenden Kunst schon beim französischen
Kubismus um Braque und Picasso nachweisen, die in ihren Papiers coll�s das
Verfahren des Collagierens schon vor den Dadaisten verwendet haben.
Das Augenmerk sollte dabei aber auch nicht auf der Originalität
der Verfahren liegen, sondern eher auf der bis dahin nicht gekannten Radikalität
im Einsatz und Zusammenspiel der Verfahren, mit deren Hilfe der Bruch und die
›Abnabelung‹ von der Traditionsgebundenheit der bürgerlichen Kunst herbeigeführt
wird: »Entstanden ist sie [Anti-Kunst] als Tendenz nicht aufgrund einer
Feindschaft zur Kunst, sondern aufgrund eines Unbehagens an der gesellschaftlichen
Rolle, die sie bis dahin gespielt hatte.«[15]
Aus heutiger Sicht fällt es schwer, an den künstlerischen Zeugnissen selbst eine Unterscheidung in Kunst und Anti-Kunst vorzunehmen, ohne den zeitgeschichtlichen und ästhetischen Hintergrund der entgegengesetzten Positionen zu kennen. Am kunsthistorischen Prozeß der Kanonisierung neuer künstlerischer Tendenzen, läßt sich beobachten, daß nicht nur mit dem Kunstmarkt konform gehende Ideen institutionalisiert werden, sondern auch extreme Gegenpositionen. So wie reformative Tendenzen institutionalisiert werden, ist auch an Futurismus und Dadaismus abzulesen, daß über einen längeren Zeitraum die ursprünglich anti-künstlerischen Richtungen in den Kunstapparat integriert werden können. Eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dada beginnt zwar erst in den sechziger Jahren, während ein Teil der Ideen in den Arbeiten anderer Künstler schon längst vorher Verwendung finden. Sobald die von den Künstlern intendierten Veränderungen eine Erweiterung des Kunstbegriffs bewirken, wird Anti-Kunst zur Kunst, die somit wieder zur Modifikation der künstlerischen Konventionen beiträgt. Anti-Kunst bezeichnet also eher eine geistige Haltung, die – entsprechend dem Kunstbegriff selbst – einem dynamischen Prozeß von Modifikationen unterworfen ist, als ein System von meßbaren Strukturen zur Kategorisierung. Wassily Kandinsky beschreibt dies in seinem Ausatz über die Formfrage: »So sieht man, daß im Grunde nicht der neue Wert das wichtigste ist, sondern der Geist, welcher sich in diesem Werte offenbart.«[16] Die Integration von Anti-Kunst in das Kunstsystem bedeutet neben der Akzeptanz gegenüber neuen formalen und inhaltlichen Gestaltungsprinzipien auch eine Integration der Geisteshaltung, die das Konventionelle in Frage stellen bzw. überwinden will. Daraus resultiert nahezu eine ›Endlosschleife‹, die mit der Integration der Gestaltungsprinzipien immer neue Anti-Konzepte hervorbringt: »Außerdem handelte es sich in dem Moment, wo zum Beispiel DADA tatsächlich zur Lebenspraxis geworden wäre, nicht mehr um Anti-Kunst, sondern um die Ausgestaltung einer anders gearteten Institution Kunst, gegen die wiederum eine aktualisierte anti-künstlerische Position entwickelt werden müßte.«[17] Entsprechend der radikalen Ablehnung des italienischen Futurismus gegenüber der Kunsttradition im eigenen Land, wenden sich die Dadaisten zum Teil auch wiederum gegen den Futurismus. Am Beispiel von Dada wird man unter diesem Aspekt sogar ein Infragestellen der eigenen Ideen und Mechanismen beobachten können, das den Widerspruch gegen sich selbst mitbeinhaltet und von Manfred Brauneck auf den Punkt gebracht wird: »Wer gegen Dada ist, ist Dadaist«[18] Vor allem darf Anti-Kunst nicht mit Nicht-Kunst verwechselt werden, da die Destruktion von gestalterischen, moralischen oder politischen Normen mit der Konstitution neuer Konzepte einhergeht.
1.2. Zum Avantgarde-Begriff
Als kunsthistorische Epochenbezeichnung verbindet sich mit
dem Begriff Avantgarde eine breite und noch immer andauernde Diskussion um die
definitorische Zuordnung und theoretische Abgrenzung der verschiedenen
avantgardistischen Bewegungen. Der militärische Ursprung des
französischen Begriffs wird innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung
umbewertet, um künstlerische Phänomene zusammenzufassen, deren Ziel es
ist, festgefügte Traditionen der Kunst zu überwinden. Nun wirft diese sehr
allgemeine Feststellung das Problem auf, woran die konkreten Zuordnungsmerkmale
einer avantgardistischen Kunst festzumachen sind. Neben einer Diskussion, die
auf theoretischer Ebene die Verflechtung der künstlerischen Ziele mit den
gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen kurz nach der
Jahrhundertwende untersucht, orientieren sich andere Ansätze rein
kunstimmanent. Eine sehr allgemeine These zum historischen Ursprung
dessen, was unter Avantgarde zusammengefaßt wird, resümiert: »Daß Avantgarde
als Epochenbezeichnung erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit Aufkommen
von Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus
wirksam wird, bezweifelt heute eigentlich niemand mehr [...].«[19]
Hieraus wird deutlich, daß der Betrachtungsgegenstand Avantgarde eine
intermediale Perspektive erfordert, da mit dem Kubismus beispielsweise der
Bereich bildende Kunst thematisiert werden muß, andere Gruppenbewegungen mehr
einen literarischen Ursprung haben – beispielsweise Dada, Futurismus
oder Surrealismus – und interdisziplinäre Verschränkungen
zu angrenzenden Kunstgattungen aufweisen. Dabei gibt es deutliche
überschneidungen zwischen den Gruppen, wie z. B. die kubistische
Montage-Technik der papier coll�s bei Dada auch im Bereich der literarischen
Produktion oder in der Fotomontage aufgegriffen und weiterverarbeitet wird. Die
Beispiele für wechselseitige Beeinflussungen zwischen den verschiedenen
avantgardistischen Bewegungen sind zahlreich. Es wäre daher unzureichend,
eine historische Linie anhand ihrer Entstehungsdaten nachzuzeichnen. Den
Dadaismus als die völlige Ablösung des Futurismus zu sehen, wäre sowohl in
einer historischen wie auch kunstspezifischen Herangehensweise nicht
haltbar. Denn nicht nur historisch betrachtet laufen in gewissen
Phasen Futurismus und Dada parallel, auch auf die ästhetischen Prinzipien
bezogen, existiert zum Teil eine nachweisbare Wechselwirkung. Es gilt
dieses kunsthistorische Reihungsprinzip aufzugeben, »[...] das wir heute wohl
durch eine realitätsnähere und komplexere Vorstellung ersetzen müssen, in
der literarische Epochen als Systeme ineinander verschränkter
Richtungen erscheinen [...]«[20].
Für eine Beschreibung und Theoriebildung, in welcher Form sich Avantgarde als
Muster der »Deformation bestehender künstlerischer Normen«[21] definiert,
ist ein kunsthistorisches Epochenmodell besser geeignet, das die verschiedenen
Richtungen, die unter Avantgarde zusammengefaßt werden, gerade in der
Verschränkung und Einflußnahme wechselseitig beschreibt. Im Grunde genommen
banal, aber zentral um Mißverständnissen vorzubeugen, ist die Feststellung,
daß Avantgarde als Epochenbegriff nicht mit einem Wesensbegriff verwechselt
werden darf. Unter einem Wesensbegriff wie Symbolismus, Impressionismus
oder Expressionismus wird eine Epoche nach der dominierenden
künstlerischen Richtung bezeichnet. Avantgarde repräsentiert unter diesem
Blickwinkel eine Metabezeichnung oder Metaepoche, da unter ihr
mehrere dieser Wesensbegriffe subsumiert werden.
Eines der schon angesprochenen, allgemeinsten Ziele der
Avantgardebewegungen, nämlich der Wille, die Kunst in
lebenspraktische Zusammenhänge zu überführen, oder anders gesagt, die
Autonomie der bürgerlichen Kunst aufzuheben, geht historisch zurück auf die
überlegungen Saint-Simons zum Künstlerbegriff während der Romantik. In den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts nehmen seine Thesen zur Stellung des
Künstlers in der Gesellschaft das angesprochene Hauptmerkmal der
Avantgarde im 20. Jahrhundert schon vorweg:
»Saint-Simon [...] sah im Künstler [...] vor allem den
gesellschaftlich und politisch aktiven Bürger, dem eine
Schlüsselstellung in der Durchsetzung der utopischen Vorstellung von
einer erneuerten Gesellschaft zukommt.«[22]
Auch die Avantgardisten verfolgen die ›Utopie‹, über Kunst
eine Veränderung der Gesellschaftsordnung herbeiführen zu
können. Besonders augenscheinlich wird dies, wenn man bedenkt,
daß vielfach mit sozialen und politischen Spannungen innerhalb der Gesellschaft
eine Radikalisierung der Kunst verbunden ist.[23] Saint-Simon geht
– vergleichbar mit der Auffassung der Avantgardisten zu
Anfang des 20. Jahrhunderts – davon aus, daß der Künstler, der
sozial und politisch motiviert ist, mit den Mitteln der Kunst die Utopien wieder
in die Gesellschaft einbringen kann, so daß eine tatsächliche und direkte
Einflußnahme der Kunst auf die Gesellschaft möglich ist. Daraus
entwickelt er ein hierarchisches Modell, in dem der Künstler in seiner
gesellschaftlichen Position so verortet wird, »daß die Sache vorangehen sollte
mit dem Künstler in der Führung, gefolgt vom Wissenschaftler, und daß die
Industriellen nach diesen beiden Klassen kommen sollen«.[24] Der Künstler wird
somit in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs zur Vorhut
einer neuen Gesellschaftsordnung. Diese Forderung wirft indirekt ein
weiteres Problemfeld innerhalb einer Untersuchung der historischen Avantgardebewegungen
auf. Für eine Avantgarde im nachrevolutionären Rußland wäre eine solche
Hierarchisierung natürlich weder politisch noch künstlerisch
haltbar, da der Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaftsordnung primär
politisch gesetzt ist. Die Revolution innerhalb der Kunst unterstützt das
neue Gesellschaftssystem als adäquaten Ausdruck und Reaktion auf die außerkünstlerischen
Veränderungen. In einer Gesamtdarstellung der verschiedenen nationalen
Avantgardebewegungen müssen also die spezifischen politischen
und sozialen Voraussetzungen zunächst scharf voneinander getrennt werden.
So lassen sich innerhalb der verschiedenen Ansätze einer Theoriebildung
zwei grundsätzliche Perspektiven herauslesen. Zum einen eine überwiegend
politische Akzentuierung im marxistischen Sinn, daß die avantgardistische
Kunst mit dem Willen auf Veränderung ein Zwischenstadium, eine
notwendige Reaktion auf die neue zu erreichende Gesellschaftsordnung darstellt.
Die Avantgarde ist unter dieser Perspektive keine revolutionär
eigenständige Bewegung, sondern stellt sich in den Dienst der politischen
Revolution und bildet nach materialästhetischen Bedingungen ein
neues Kunstsystem heraus. Zum anderen wird eine avantgardistische Bewegung
als antitraditionalistische Reaktion auf das vorherrschende
bürgerliche Kunstsystem bezeichnet, die ihre Motivation aus den sozialen,
gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zu Beginn
des Jahrhunderts gewinnt. Schon am italienischen und russischen
Futurismus kann man beobachten, daß diese Stigmatisierungen zu
einer verengten Perspektive führen müssen, denn die konkreten künstlerischen
äußerungen zeigen in erster Linie eine Aufbruch- und Umbruchstimmung. Zu
den Bildern der italienischen Futuristen resümiert Heinz Ohff: »Additiv
aneinandergereihte Formen, die sich in der Aneinanderreihung verändern,
rufen einen Eindruck äußerster Geschwindigkeit hervor. Spürbar wird
dabei eine ungeheure Zukunftsgläubigkeit, eine überschwengliche
Begeisterung, die in den neuen technischen Mitteln fast schon den über-Menschen
verwirklicht sieht.«[25]
Dieser Ausgangspunkt ist zunächst weder gesellschaftlich noch politisch
motiviert oder beeinflusst. Die Visualisierung von Bewegung und
Geschwindigkeit, das Thematisieren des Maschinellen des neuen
Industriezeitalters kennzeichnet nicht nur den italienischen Futurismus,
sondern auch sein russisches Pendant. Die grundlegende Disposition der
Futuristen, die Ohff mit »ungeheurer Zukunftsgläubigkeit« umschreibt,
könnte natürlich eine Hinwendung Marinettis zum italienischen Faschismus
in gewisser Weise erklären, jedoch wäre dies eben die Konsequenz einer
Disposition und nicht die Motivation für eine avantgardistische Kunst, zu
der der Futurismus beigetragen hat. ähnliches läßt sich auch auf den russischen
Futurismus projezieren; dies zeigt, daß eine Analyse, die sich in derartiger
Form verengt, das Phänomen nur unzureichend beschreiben kann. Strutz und
Zima beschreiben mit einem Modell, daß auf E. Bojtar zurückgeht, eine
Drei-Phasen-Unterteilung der historischen Avantgarde, die die
Entstehungssituation der einzelnen Gruppen – sehr allgemein gehalten
– transparenter macht:
»(a) eine frühe, bis 1916 währende Periode, der die
autonome, offene Situation der Kunst in der modernen
Industriegesellschaft zugrundelegt; weiter eine (b) politisch und
ideologisch stärker akzentuierte zentrale Periode, die etwa bis
1921/22 andauert und für die die Verbindung von literarischer und
künstlerischer Avantgarde mit der revolutionären Bewegung der Zeit bestimmend
ist. (Propaganda und Dialektik werden stärker betont). Darauf folgt (c)
eine Periode der Konsolidierung in Kunst und Literatur, die zu einem gesellschaftlich
brauchbaren Instrument bei der Umgestaltung des gesellschaftlichen
Lebens werden sollen.«[26]
In der Praxis kann man mit diesem Modell sowohl die Entstehungssituation
des jeweiligen Ismus deutlicher im Auge behalten, als auch dispositive und
künstlerische Veränderungen in der historischen Entwicklung des jeweiligen
Ismus fassen. Die epochale Unterteilung bleibt damit allerdings immer noch
einer linearen Vorstellung verhaftet, die den Blick für die
Verschränkungen und überschneidungen nicht vernachlässigen darf.
Diese sehr grobe Diskussion der theoretischen Grundlagen der
Avantgardeforschung, sollte lediglich einige Grundzüge und Problemstellungen
aufwerfen, die im Zusammenhang einer konkreten Betrachtung eines Stilkomplexes
wichtig werden. überhaupt ist die Frage zu stellen, ob es Sinn macht, die
verschiedenen Wesensbegriffe zu einer höheren Einheit zusammenzufassen, da
der Prozeß von Dekanonisierung, Anti-Kunst und Ablösungserscheinungen
historisch eine Kreisbewegung beschreibt und der Bestand an zu
untersuchendem Material sich so beständig erweitert. Die auf
wissenschaftlicher Ebene geführte Diskussion um den Avantgardebegriff kann
hier lediglich angedeutet werden, jedoch würde der Versuch von Peter Bürger in
den 70er Jahren eine dezidierte Theorie der Avantgarde zu konstituieren
(inkl. der in- und extensiven Reaktion darauf) eine alleinige Betrachtung
erfordern.[27]
Als Kern der angerissenen Diskussion bleibt festzuhalten, daß unter dem Begriff der historischen Avantgarde allgemein die kunstgeschichtliche Zäsur zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden wird, in der – ausgehend vom Kubismus – sich die Künstler gegen das bürgerliche, traditionalistische Kunstsystem wenden und gleichzeitig eine ästhetische wie auch gesellschaftliche Umbewertung der Kunst zu erreichen suchen. Avantgarde bildet somit einen Metaepochenbegriff, unter dem Kubismus, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus subsumiert werden. Die historischen, gesellschaftlichen und politischen Ausgangsbedingungen der einzelnen Ismen sollten jeweils getrennt voneinander betrachtet werden; gemeinsam ist ihnen die Perspektive auf das, was sie durch eine ästhetische Umbewertung im traditionellen Kunstsystem verändern wollen: nämlich die Kunst aus ihrer bürgerlich getragenen Autonomie zu lösen und sie gesellschaftlich wirksam zu funktionalisieren. Den jeweiligen künstlerischen Konzepten ist zwar auf der allgemeinen Ebene einer Dekontextualisierung der verwendeten Zeichen und der Auflösung des geschlossenen Werkbegriffs eine zusammenfaßbare Gemeinsamkeit zu unterstellen, die konkreten künstlerischen Konzepte müssen allerdings in jeder Strömung getrennt untersucht werden. Unter der gemeinsamen Zielrichtung, die Kunst in lebenspraktische Bereiche zu überführen, also gesellschaftliche Veränderungen auszulösen, bricht die Avantgarde nicht nur mit künstlerischen Normen, sondern auch mit gesellschaftlichen Tabus, die ins Kunstsystem als Anti-Gestus mit integriert werden. Eine Analyse der avantgardistischen Gruppenbewegungen sollte stets die wechselseitigen Beeinflussungen und Verschränkungen paralleler Ismen miteinbeziehen, da eine Argumentation von der linearen Abfolge avantgardistischer Strömungen das Bild in historischer und künstlerischer Hinsicht zu stark verzerren würde.
Versteht man Avantgarde als Metabegriff zur kunsthistorischen Epochenbildung, sollte man Anti-Kunst als gruppenintern nachzuweisenden künstlerischen Gestus zur Durchsetzung einer überwindung des bürgerlichen Kunstsystems verstehen. Dieses Verständnis von Anti-Kunst als geistigem und künstlerischen Gestus, der den avantgardistischen Stilkomplexen gemeinsam in der Erreichung ihrer Ziele zu sein scheint, soll den folgenden Ausführungen als Basis dienen und weiter verfolgt werden.
2.1. Zur Entstehung der historischen Avantgarde
Die historische Avantgarde repräsentiert durch ihre neuen
künstlerischen Verfahren und Denkmuster eine grundlegende Zäsur, die sich
um die Jahrhundertwende manifestiert. Geistesgeschichtliche,
wissenschaftliche, technische und politische Veränderungen im
Gesellschaftsgefüge leiten eine neue Epoche ein, in der auch auf künstlerischer
Seite ein entsprechender Ausdruck dieser Veränderungen gesucht wird,
um mit dem zweckdeterministischen Rationalismus des 19. Jahrhundert zu brechen.
Im ersten Kapitel wurde bereits kurz umrissen, daß die verschiedenen Avantgardebewegungen
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst getrennt voneinander nach
ihren spezifischen, nationalen, politischen, gesellschaftlichen und
künstlerischen Voraussetzungen betrachtet werden müssen, um zu einem differenzierten
Bild ihrer Entstehung gelangen zu können. Dies soll anhand zweier Ismen –
dem Futurismus und Dadaismus – geschehen, wobei der Surrealismus
ausgeblendet bleibt, der in einer umfangreicheren Betrachtung eine
ebenso wichtige Rolle spielen müßte. Die Betrachtungsperspektive
richtet sich auf die Entwicklungslinie – sofern eine solche im Folgenden
nachgewiesen werden kann –, die, ausgehend von der historischen
Avantgarde über die künstlerischen Tendenzen der 60er Jahre, repräsentiert
durch die Happening- und Aktionkunst-Bewegungen, in die Gegenwart führen
soll.
Die Grundannahme dieser einleitenden Betrachtung zur
Kunstauffassung der Futuristen und Dadaisten soll sein, daß neben den isoliert
zu betrachtenden Voraussetzungen der beiden Gruppenbewegungen, geistesgeschichtliche,
mediale und wissenschaftliche Grundlagen existieren, die beiden künstlerischen
Richtungen eine gemeinsame Grundlage bieten. Auf diese
außerkünstlerischen Grundlagen soll im Folgenden kurz eingegangen werden,
da die künstlerische Produktion vielfach auf die zeittypischen
Lebensbedingungen reagiert. Die Kunst verarbeitet die vorgefundene
Wirklichkeit und transformiert diese in den ihr eigenen Ausdruck. Ob dies
nun auf der Basis eines verstandfixierten Rationalismus oder einer
metaphysischen Sichtweise geschieht, sollte in der Btrachtung der konkreten
künstlerischen äußerung nicht ausgeblendet bleiben.
Das beginnende 20. Jahrhundert präsentiert sich auf mehreren
Ebenen als vielschichtige Umbruchsphase. In den natur- und
geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Physik, Philosophie,
Psychologie, Austronomie und Linguistik finden tiefgreifende Veränderungen
statt, die das Weltbild nachhaltig beeinflussen. Betrachtet man die
Entwicklung der Philosophie, leiten schon im 19. Jahrhundert Arthur
Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche Gegenpositionen
zur aufklärerischen Vernunft des 19. Jahrhunderts ein, welche entgegen
dem bis dato vorherrschenden Rationalismus Denkmodelle konstituieren, die
die Welt nicht allein aus Kausalitätsprinzipien und der Vernunft des Menschen
zu erklären sucht. Logische Gesetze sind nach ihrer Vorstellung nur beschränkt
für eine Erklärung von Leben und Welt zu gebrauchen. Intuition, das
gefühlsmäßige Erfassen, Irrationalität und Metaphysik sind dominierende Kategorien,
nach denen ihre Philosophie die menschliche Existenz nicht mehr als reines Sein
beschreibt, sondern als Prozeß von Bewegung, Werden und Entwicklung. Diese
Grundannahmen finden sich bei einem Hauptvertreter der Lebensphilosophie, dem
Franzosen Henri Bergson wieder, der mit seinem Modell einer nicht rational
erfaßbaren Zeiterfahrung gerade auf die Avantgardisten Einfluß gehabt
haben muß. Im Rationalismus galt die Vorstellung, daß die Zeit meßbar als
lineare Abfolge von Jetzt-Momenten durch den Verstand zu begreifen ist. Bergson
trennt die Vorstellung des materiellen Raums, der wissenschaftlich begreifbar
ist, von der Zeit, die nur durch Intuition individuell erfaßbar ist und dem
menschlichen Verstand einen linearen Ablauf vorgibt:
»Die wirkliche Zeit, die reine Dauer, kann der Verstand
nicht begreifen. Wenn er sich der Zeit zuwendet, überträgt er seine der
räumlichen Materie entsprechenden Formen auf die Zeit. Er zerstückelt sie,
zerschneidet sie in zähl- und meßbare Einheiten und geht damit an ihrem wahren
Leben vorbei.«[28]
Diese Erkenntnis muß in enger Bindung zu den physikalischen
Theorien des frühen 20. Jahrhunderts gesehen werden, mit denen Albert Einstein
in seinen beiden Relativitätstheorien – der speziellen (1905) und
der allgemeinen (1916) – die Zeit als vierte Dimension in die physikalische
Konstruktion von Wirklichkeit miteinbindet. Im Zusammenhang mit den technischen
Erfindungen des 19. Jahrhunderts, wie dem Telegraphen zur übermittlung von
Informationen, der die bisherige Form der Vermittlung radikal beschleunigt, der
Eisenbahn, des Autos und des Flugzeugs, die die zeitliche überwindung von
räumlichen Distanzen extrem verändern, dynamisiert sich die menschliche
Vorstellung von Zeit und erfahrbarem Raum.
»Die zunehmenden Möglichkeiten für jedermann, an dieser
Eroberung sowohl aktiv (durch Reisen) als auch passiv (durch Zeitungen,
Radio und Telefon) teilzuhaben, löste zunächst ein Gefühl unbändiger
Euphorie aus. Die Wahrnehmung der Zeit als dynamische, schnelle Fortbewegung
zur Eroberung des Raumes wurde zu einem der intensiven Erlebnisse des
beginnenden 20. Jahrhunderts.«[29]
Was im Zeitalter der globalen Vernetzung durch
Computernetzwerke zu Ende unseres Jahrhunderts als selbstverständlich gilt, hat
hier mit der Einführung des Telefons seinen Ursprung: die Möglichkeit zur
simultanen Kommunikation, nahezu unabhängig von der räumlich zu
überbrückenden Distanz. Dies löst eine enorme geistige und gesellschaftliche
Veränderung der menschlichen Lebenswelt aus, die von einigen Künstlern
begeistert aufgenommen wird. Die grundlegende Veränderung der menschlichen
Raum-Zeit-Vorstellung und die einsetzende Euphorie angesichts der immensen
technischen Möglichkeiten, sind wichtige Voraussetzungen in der
Auseinandersetzung mit der technologieverherrlichenden futuristischen
Programmatik. Marinetti fordert in seinem 1908 entstandenen und 1909 in Le
Figaro erstmals publizierten Manifest des Futurismus:
»Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte!
... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnissvollen Tore des
Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir
leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige
Geschwindigkeit erschaffen.«[30]
Mit der Fotographie und dem Kinematographie dringen auf der
Basis technischer Entwicklungen zwei ›neue Medien‹ in das
gesellschafltiche Bewußtsein, die die künstlerische Verarbeitung von
Wirklichkeit ebenso radikal verändern, da es über die belichtete Fotoplatte und
das kinematographische Zelluloid als Bildträger nahezu perfekt möglich ist,
ein Abbild der Wirklichkeit zu reproduzieren: »Indem das
Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihre
kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie.«[31]
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, genauer auf das komplexe System einzugehen,
wie das Kino über die bewegten Bildern, neue schauspielerische Ausdrucksformen,
veränderte Produktions- und Rezeptionshaltungen, der abbildhaften
Simulation von Wirklichkeit etc., nachhaltig auf eine Modifizierung der
theatralen Ausdrucksformen gewirkt hat. Das folgende Kapitel wird versuchen,
deutlich zu machen, in welcher Form das Theater des Futurismus und Dada auf die
neuangebrochene Zeit reagiert und sich neue Ausdrucksformen in der
künstlerischen Produktion erschließt. Technik, Bewegung und Dynamik, der
Ausdruck des neuen Zeitalters, werden dabei zu den bestimmenden Themen, die die
Futuristen nicht allein auf dem Theater zu erreichen suchen, sondern die ihr
ganzes künstlerisches Schaffen bestimmen.
Neben den unterschiedlichen zeitlichen, politischen und
gesellschaftlichen Hintergründen, unter denen Futurismus und Dada entstehen,
zeichnen sich doch geistesgeschichtliche, wissenschaftliche und mediale
Gemeinsamkeiten ab, die beiden Gruppen, trotz ihrer unterschiedlichen
Standpunkte zu den Themen Kunst, Gesellschaft und Politik, als Basis
zugrundeliegen. Um es nocheimal zusammenzufassen, bedingen die neuen
physikalischen Theorien Einsteins und die philosophischen überlegungen Henri
Bergsons einen neuen Umgang mit der vorher rein linear definierten
Zeitvorstellung. Zudem lassen Philosophie und Wissenschaft eine Tendenz
erkennbar werden, die sich gegen einen Rationalismus wendet, der
Wirklichkeit im 19. Jahrhundert nur aus logischen Gesetzmäßigkeiten heraus
erklärt. Wissenschaft und Philosophie lassen eine gewisse Form von
Irrationalität in ihren Theorien zu, die auch zum mitbestimmenden
Moment der künstlerischen Produktion und Provokation bei Futurismus und Dada
wird. Die technischen und geistesgeschichtlichen Veränderungen, die die
Raum-Zeit-Vorstellung nachhaltig verändern, werden – auch in teils
ablehnender Haltung dei den Dadaisten – Themen der avantgardistischen
Kunst. Das avantgardistische Theater lehnt die neu entstandenen Medien
nicht allein aus existenziellen ängsten heraus ab, sondern integriert
diese zum Teil und schafft durch veränderte Produktions- und Rezeptionsmuster
neue Ausdrucksformen. Simultaneität als neue gesellschaftliche Kommunikationsform
wird in avantgardistische Formen darstellender und bildender Kunst als
›Vorhut‹ einer neuen Kunstauffassung mit integriert.
2.2 Futurismus – Das Theater des Schocks
»Die Destruktion der Futuristen ist von vornherein als ein konstruktiver Beitrag zur Gestaltung der Zukunft angelegt.«[32]
2.2.1 Ausgangssituation
In diesem Kapitel soll der Schwerpunkt in der
Auseinandersetzung mit der futuristischen Programmatik auf der theoretischen
und praktischen äußerungen der italienischen Gruppe liegen, wie Marinetti und
dessen Mitstreiter eine Erneuerung darstellender und bildender Kunstformen zu
erreichen suchen. Dies soll unter dem Blickwinkel des Aktionscharakters der
futuristischen serat�s verfolgt werden, der für die Happening- und Aktionskunst-Bewegung
in den 60er Jahren einige Anknüpfungspunkte bieten kann. Der aggressiv
anti-künstlerische Gestus, der charakteristisch für dieses neue theatrale
Konzept ist, soll ebenso herausgearbeitet werden, wie die grundlegende
Differenz zu späteren Dada-Aktionen, deren Ansatzpunkt als weitaus
›untheoretischer‹ zu bezeichnen ist, als die in zahlreichen Manifesten
dokumentierte Kunsttheorie der Futuristen. Die Dada-Bewegung zeichnet sich zwar
ebenfalls durch eine Vielzahl an veröffentlichten Manifesten aus; die
grundlegende Differenz liegt allerdings in einer deutlichen Ablehnung der
Dadaisten, über das Manifest – wie auch generell – eine dezidierte
Theoriebildung zu verfolgen.
Darüber hinaus bietet das futuristische Theater die
Möglichkeit, die grundlegenden Orientierungen der italienischen Bewegung
herauszuarbeiten, die auf eine neue Kunsttheorie und -praxis zielen, um das
bestehende Kunstsystem nachhaltig umzustrukturieren. Die
interdisziplinären Verschränkungen zwischen Literatur, bildender Kunst,
Architektur und Musik laufen in deutlicher Weise im Theater der italienischen
Futuristen zusammen und sollen damit als überblick und für einen späteren
Vergleich mit Dada und neueren Ansätzen ausreichen.
Während das vorausgehende Kapitel auf die allgemeinen
zeitgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der historischen
Avantgarde nach der Jahrhundertwende eingeht, sollen im Folgenden am Beispiel
der italienischen Futuristen die nationalen, gruppenspezifischen und
kunsttheoretischen Grundlagen erörtert werden. Denn gerade mit Blick auf
das Theater, zeigt sich in Italien nach der Jahrhundertwende eine
Situation, die sich deutlich von der in den übrigen europäischen Ländern
absetzt.
Um 1900 setzt mit Adolphe Appia, Peter Behrens, Edward
Gordon Craig und Jacques Copeau – um nur einige Hauptvertreter zu nennen
– eine gesamt-europäische Theater-Bewegung ein, die theoretisch und
praktisch die naturillusionistische Bühnentradition unter
spezifischen Gesichtspunkten grundlegend reformieren will: »Das Theater
befreite sich von der Fessel an die Literatur und konstituierte sich als
autonome Kunstform. [...] es verstand sich nicht mehr als Institution der
Vermittlung oder Interpretation einer literarischen Vorlage. [...]
Schauspielkunst war in erster Linie die ›Kunst den Körper zu bewegen‹.«[33]
Diese zwei zentralen Ansatzpunkte, das Theater weitgehend von der dramatischen
Vorlage zu lösen, und den Schauspieler aus seiner bisherigen Funktionalität
als der Handlung unterworfenem Darsteller zu befreien, wird durch eine dritten
Punkt gestützt, der sich grundlegend auf die Trennung von Bühne und
Zuschauerraum bezieht. Durch eine neue Bühnenarchitektur und die umfassende
Umgestaltung des gesamten Theaterraums, soll diese, für die traditionelle
Guckkastenbühne typische Trennung aufgehoben werden.
Die europäischen Reformansätze sind in Italien um die Jahrhundertwende zwar bekannt, eine entsprechende Reaktion und Theaterpraxis bleibt jedoch unter spezifischen Voraussetzungen aus: »Während die Theaterreformer in ganz Europa eigene Theater gründeten, in denen sie ihre neuen Ideen ausprobieren konnten, blieb das italienische Theater seiner Tradition und Volksverbundenheit verhaftet.«[34] In Italien dominiert zu dieser Zeit eine Form des Tourneetheaters, bei dem einzelne Ensembles an wechselnden Orten vor einem oft stark unterschiedlich orientierten Publikum spielen und kaum Möglichkeiten für neue experimentelle Ideen realisierbar sind. Dieses traditionelle Theater muß zwangsläufig in Form und Inhalt einer Konvention verhaftet bleiben, welche die Inszenierung nach der Leistung der Schauspieler und der Qualität des dramatischen Stoffes bewertet. Ein Regietheater, daß sich zum Beispiel in Deutschland über die Konstituierung neuer experimentierfreudiger Bühnen herausbildet, findet in Italien keine adäquate Praxis.
»Warum die dramatische Kunst nicht so weiterbestehen kann wie bisher: sie ist ein klägliches industrielles Produkt, untergeordnet dem Unterhaltungsmarkt und den bürgerlichen Vergnügungen, muß von allen schmutzigen Vorurteilen gereinigt werden, die die Autoren, die Schauspieler und das Publikum erdrücken.«[35]
2.2.2 F. T. Marinetti
Dies ist die Ausgangssituation, die der Mailänder Journalist
und Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti in seinem Land vorfindet. Der 1908
zuerst in Italien veröffentlichte aggressive Angriff auf das vorgefundene
Kunstsystem Gründung und Manifest des Futurismus, der am 20. Februar 1909 auf
der Titelseite der französischen Zeitung Le Figaro erscheint, leitet im
Folgenden die Entwicklung dessen ein, was heute als Beginn der historischen
Avantgarde rezipiert wird. Marinetti, der seit 1905 die literarische
Zeitschrift Poesia herausgibt, sucht mit seiner anti-passatistischen Haltung,
der Ablehnung alles Vergangenen und seiner euphorischen Haltung gegenüber dem
neuen technischen Zeitalter, eine aggressive Neuerung der Kunst
einzuleiten. Eine vielzitierte Stelle aus dem Gründungsmanifest zeugt von
dem bedingungslosen und haßerfüllten Gestus, mit dem der Futurismus von Anfang
an ins öffentliche Bewußtsein eindringen will:
»Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll
mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den Futurismus
gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der
Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. Schon zu
lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen
Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken.
[...] Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich
gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände
abschlachten.«[36]
Marinetti wendet sich mit seinem Angriff gegen eine
verherrlichende Stilisierung der italienischen Kunstgeschichte und damit
auch gegen die einstigen kulturellen Zentren Rom, Florenz, Mailand, über die
sich Italien auch nach der Renaissance als künstlerischer Mittelpunkt
international definieren konnte. Als Auslöser für die radikale Ablehnung der
Futuristen gegenüber der Tradition und Geschichte einer längst vergangenen
italienischen Kunst ist zu sehen, daß die Futuristen ein solches Erbe als
hemmende Last für eine Neudefinierung von Kunst und ihrer Konzepte entschieden
verneinen. Man will nicht länger vergangene Traditionen zitieren und
damit in künstlerischen Konventionen gefangen bleiben. Eine neue Kunst kann
sich nur dann herausbilden und entfalten, wenn das Vorausgegangene
ohne Zugeständnisse überwunden wird. Die Diskrepanz zwischen Gegenwart und
Vergangenheit ist es, die Marinetti und die Futuristen mit ihrer unbedingten
Zukunfts- und Technikeuphorie zu überwinden suchen. Die im bürgerlichen
Leben funktionalisierte Kunst, die dem persönlichen Genuß und der Unterhaltung
dient, soll aus ihrem kommerzialisierten Zusammenhang gerissen werden und mit
einem unmittelbaren Lebensbezug in Einklang gebracht werden. Eine Forderung,
die oben schon als wichtiger Wesenszug einer avantgardistischen
Kunstauffassung thematisiert wurde: die Zusammenführung von Kunst und Leben.
Der anti-künstlerische Gestus, der Marinettis öffentliche Auftritte und
Manifeste charakterisiert, kulminiert in der Forderung nach einer absoluten
Vernichtung der bestehenden Verhältnisse, um eine neue Kunst und Lebensauffassung
zu konstituieren: »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige
Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat
der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, [...].«[37]
Diese positive Disposition zu einem Krieg, der die angestrebte Umwälzung auch
durch einen nichtkünstlerischen Destruktionsakt befürwortet, unterscheidet die
Futuristen in deutlicher Weise von den Dadaisten, die sich 1916 –
während der I. Weltkrieg in ganz Europa wütet – im Schweizer Exil
formieren.
Die entschiedene, aggressive Haltung der Futuristen zeigt
sich auch in der öffentlichen Vermittlung ihrer Ideen, die in ihrem
Aktionscharakter vergleichbar den Veranstaltungsabenden ist. Marinetti hängt in
verschiedenen italienischen Großstädten überformatige Plakate auf, die auf
die futuristische Bewegung und ihre Veranstaltungen aufmerksam machen
sollen. Er verteilt Flugblätter, indem er sie aus einem fahrenden Auto direkt
auf die Straße wirft und nicht zuletzt durch die serat�s, den futuristischen
»Saalschlachten«[38],
auf denen lautstark und teils handgreiflich mit dem Publikum interagiert
wird:
»Der Ablauf der ›serate‹ verlief stets nach dem gleichen
Prinzip. Nach einem ersten Teil, in dem alte und neue Manifeste und Erklärungen
verlesen wurden, die im allgemeinen von lebhaften Zuschauerkommentaren
begleitet wurden, kam der zweite und künstlerische Teil. Zu Beginn
wurden Gedichte vorgetragen, die bei den ersten Veranstaltungen noch
relativ unspektakulär waren, in den späteren Vorstellungen jedoch mehr und mehr
theatralisiert wurden. [...] Andere Elemente waren die futuristische
Geräuschmusik, Publikumsbeschimpfungen, ›parole in
libert�‹, die ›sintesi‹ – eine von den Futuristen praktizierte
Minitheaterform – und nicht zuletzt politische Erklärungen und
Provokationen. Gerade letztere lösten oft die härtesten Zusamenstöße
beziehungsweise Beifallsbekundungen aus.«[39]
An diesen Aktionsabenden wird deutlich, daß den Futuristen
die theatrale, darstellende Form von Anfang das bestimmende Instrument zur
Vermittlung ihres Ideenguts ist. Die spezifischen Formen, die sich unter den
Stichworten Synthese und Simultaneität auf dem Variet� in einem
veränderten dramatischen Konzept herausbilden, sollen im folgenden Kapitel
näher betrachtet werden.
2.2.3 Serat� und synthetisches Theater
Die öffentliche Propaganda Marinettis hat nicht nur die
Kritiker auf den Plan gerufen, die die aggressive Programmatik und das
spektakuläre Auftreten zuerst nicht sonderlich ernst genommen haben. Nach
Erscheinen des Gründungsmanifests stoßen zur ursprünglich aus dem Bereich
der Literatur stammenden Kerngruppe um Marinettis Zeitschrift Poesia Paolo
Buzzi, Enrico Cavacchioli und Corrado Govoni und die den Futurismus in der
Folgezeit bestimmenden Maler Umberto Boccioni, Luigi Russolo, Carlo Carra,
Giacomo Balla und Gino Severini hinzu. Das von ihnen 1910 verfaßte Manifest der
futuristischen Maler war der Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
eines Stils, der »bis heute weit größere kunstgeschichtliche
Aufmerksamkeit gefunden hat als die futuristische Dichtung.«[40]
Aus der Zusammensetzung der Gruppe, zu der noch einige wichtige Künstler aus
den verschiedensten künstlerischen Bereichen stoßen – zum Beispiel der
die futuristische Bühnenarchitektur prägende Enrico Prampolini –,
kann man die gattungsüberschreitende Arbeitsweise der Futuristen erkennen,
die dadurch eine umfassende Veränderung des Kunstsystems zu erreichen
suchen. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist für die Verfahrensweise
und Zusammensetzung nachfolgender Avantgarde-Gruppen als charakteristisches
Merkmal zu beobachten und für die theoretische und praktische Fundierung des
theatralen Konzepts der Futuristen von großer Bedeutung.
Die ablehnende Haltung gegenüber dem bürgerlichen
Kunstsystem tritt deutlich hervor, als Marinetti 1911 – auf die
dramatische Kunst rekurrierend – in seinem Manifest der futuristischen
Bühnendichter schreibt:
»ein klägliches industrielles Produkt, untergeordnet dem
Unterhaltungsmarkt und den bürgerlichen Vergügungen, muß von allen
schmutzigen Vorurteilen gereinigt werden, die die Autoren, die Schauspieler
und das Publikum erdrücken.«[41]
Das Theater als futuristische Kunstform bietet exemplarisch
die Möglichkeit, das anti-künstlerische Konzept, bezogen auf neue
Produktions- und Rezeptionsverfahren, deutlich zu machen.
Vergleichbar mit den Theorien zur Literatur und Malerei findet die gedankliche
Auseinandersetzung zuerst im Medium des Manifests statt, das nach seiner
inneren Struktur den deutlichen Willen zur logischen Aufbereitung der Thesen
zeigt. Dieses argumentative Vorgehen wiederspricht dem in den meisten
Manifesten proklamierten Verzicht auf eine logische Kohärenz in der
künstlerischen Produktion, wenn Marinetti, E. Settimelli und B. Corra in Das
futuristische synthetische Theater
die These aufstellen: »Deshalb [...] ist es dumm, alles was gezeigt
wird, logisch und genau erklären zu wollen. Auch im Leben zeigt sich kein
Ereignis ganz, mit all seinen Ursachen und Konsequenzen.«[42]
Dies verweist übrigens auf eine deutliche Parallele zur dadaistischen
Kunstpraxis, die in weitaus energischerer Weise das kognitive Verstehen
des Zuschauers verstört.
Das in diesem 14-Punkte-Manifest entworfene synthetische
Theater basiert auf den Erfahrungen mit den bereits erwähnten serat�s, den
futuristischen Saalschlachten. Ausgangspunkt dieser zum Teil inszenierten
aber auch improvisierten Aktionsabende ist eine grundlegende
Veränderung, die auf seiten der künstlerischen Produktion und Rezeption
herbeigeführt wird. Die Futuristen treten in eine offene Opposition zum
Publikum, reizen durch die Aktionen zum offenen Widerspruch, der spontan in die
Aktion miteingebaut wird. Damit beginnt sich die Grenze zwischen der
Produktions- und Rezeptionsebene aufzulösen, indem das Theater zum direkten
Erlebnis wird, bei dem der Zuschauer aktiv in den Entstehungsprozeß
eingreifen kann und so aus seiner konventionalisierten passiven
Rezeptionserwartung herausgelöst wird. Dieser Interaktionsprozeß löst nicht nur
die avantgardistische Forderung einer Verbindung von Kunst und Lebenspraxis
ein, sondern wird zu einem späteren Zeitpunkt in der Aktionskunst und der
Happening-Bewegung konstitutives Element sein.
Marinetti strebt für das futuristische Theater einen
Ausdruck an, der die Ablehnung des Publikums zum Maß des dramatischen
Erfolgs erhebt:
»Wir fordern dagegen den ABSCHEU VOR DEM UNMITTELBAREN
ERFOLG. der die mediokren und banalen Werke krönt. Die theatralischen Arbeiten,
die alle Individuen des Publikums direkt, ohne Vermittlung, ohne
Erklärung verstehen, sind mehr oder weniger gut gebaute Stücke, denen aber jede
Neuerung und daher jede kreative Genialität absolut fehlt.«[43]
Oder am Schluß des Manifests:
»Nicht alles, was ausgepfiffen wird, ist notwendigerweise
gut oder neu. Aber alles was unmittelbar beklatscht wird, liegt in keinem Fall
über dem Mittelmaß an Intelligenz und ist deshalb MEDIOKRE ANGELEGENHEIT,
BANAL, WIEDERGEKÄUT ODER ZU GUT VERDAUT!«[44]
Die kurzen inszenierten sintesi-Aktionen, die während der serat�s
aufgeführt werden, münden schließlich im Manifest Das futuristische
synthetische Theater zu einer
ausformulierten Theatertheorie des italienischen Futurismus, die es über das
darstellende Spiel ermöglichen soll, die spezifisch ästhetischen Ausdrucksprinzipien
des Futurismus (Dynamik, Simultaneität und Technik) darzustellen. Die
Prinzipien folgen dabei der Prämisse, den Zuschauer für die moderne neue Zeit
zu sensibilisieren, seine Wahrnehmung und sein Denken daraufhin zu beeinflussen.
An die erste Phase, die die direkte Aktion proklamiert, typisch für die
serat�-Abende, schließt sich eine zweite Phase an, in der sich das futuristische
Theater von einer aktionsorientierten, improvisierten Form zu einem
Theater wandelt, das nach den entwickelten Theorien eine synthetische Kurzform
herausbildet, die auf einer festen Textvorlage basierend mit professionellen
Schauspielern inszeniert wird. Die markanten Punkte dieser sintesi sind: Montage,
Simultandarstellung, Absurdität, aber auch der teilweise zu beobachtende
Verzicht auf Schauspieler oder kontextuelle Sprache. Der chronologische Handlungsaufbau,
der in seiner Linearität den traditionellen Prinzipien des Theaters folgt, wird
zugunsten einer dynamischen, simultanen Wiedergabe von Eindrücken ersetzt,
der der neuen physikalisch und philosophisch begründeten Raum-Zeit-Vorstellung
entspricht. Das Theater soll somit den Zuschauer in seiner Wahrnehmung für die
Gleichzeitigkeit von Umwelteindrücken sensibilisieren, die durch die neuen
Kommunikationstechniken, wie Telefon und Radio in das Bewußtsein des
Rezipienten rückt.
Der stilisierte Modernismus und die absolute Idealisierung
der technisierten Maschinenwelt als Sinnbild der neuen Zeit ersetzt im
Futurismus das alte Bild der Aufkärung, die auf Rationalismus und einem
Weltbild basiert, das den Menschen ins Zentrum aller Erkenntnis setzt:
»In eindeutiger Abgrenzung zur Vergangenheit, die keine
Maschine kannte, erheben die Futuristen die Technik zum neuen Mythos. Im Laufe
der Zeit wird die Maschine dabei immer stärker von ihrem funktionellen
Charakter abstrahiert, um von den italienischen Avantgardisten in
absoluter Weise idealisiert und ästhetisiert zu werden.«[45]
Das mythisierte Bild von Technik und Geschwindigkeit
spiegelt sich ebenfalls in einem Bedeutungswandel, den die futuristische
Bühnentheorie durchläuft. Die Vorstellung von Simultanität als zentralem
Ansatzpunkt einer futuristischen ästhetik, die Geschwindigkeit, Dynamik,
Technik und Analogie ins Zentrum des künstlerischen Ausdrucks setzt,
prädestiniert das Theater als Medium zur Vermittlung dieser ästhetik und der
Durchsetzung neuer Produktions- und Rezeptionsformen, die zu einer
veränderten Perzeption führen sollen. Ist das erste Manifest zur futuristischen
Bühnenkonzeption noch an der Analyse und Abwehr des traditionellen Theaters mit
seinen veralteten Ausdrucksformen orientiert, zeigt das zweite Bühnenmanifest Das
Variet� von 1912 den Versuch, eine dezidierte Theatertheorie zu
konstituieren. Das Variet� ist das Transportmittel, das durch seine
theatergeschichtliche ›Unverbrauchtheit‹ frei ist von Konventionen,
und nach Marinetti prädestiniert, die futuristische Asthetik zu etablieren.
Sehr deutlich wird hier die Erfahrung der serat�s verarbeitet, die mit den
Mitteln des Schocks und der Zuschauerprovokation die Perzeption des Publikums
im futuristischen Sinn beeinflussend verändern kann. Im Vordergrund steht dabei
die Herausbildung einer dramatischen Kurzform, die sich formal und
inhaltlich nach Montageprinzipien (hier zeigt sich eine offensichtliche
Parallele zum kinematographischen Verfahren der Montage beim russischen
Filmpionier Sergej Eisenstein) von der linearen Erzählstruktur des
traditionellen Theaters befreien will:
»Der schnelle Wechsel der einzelnen Nummern und ihre unterschiedliche
ständig neue Form wird dabei zum Spiegel der Dynamik, die die Futuristen als
den charakteristischen neuen Zeitausdruck wahrnehmen.«[46]
Das Variet� synthetisiert die nebeneinander stehenden
Versatzstücke und abstrahiert das Dargestellte von einer
literarischen Vorlage und der Qualität der schauspielerischen
Leistung:
»Die Autoren, die Spieler und die Techniker des Variet�s
haben eine einzige Daseinsberechtigung und Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten
zu ersinnen, um die Zuschauer zu schockieren. Auf diese Weise sind Stagnation
und Wiederholung völlig unmöglich, und die Folge ist ein Wetteifer der Gehirne
und Muskeln, um die verschiedenen Rekorde an Geschicklichkeit,
Geschwindigkeit, Kraft, Komplikationen und Eleganz zu überbieten.«[47]
Durch Marinettis Betonung des Aktionscharakters des
futuristischen Spiels spiegelt sich die von Sylvia Brandt angesprochene
Dynamik als Ausdruck der neuen Zeit im Kunstwerk und deutet auf die angestrebte
Verbindung und Einflußnahme der futuristischen Kunsttheorie auf
lebenspraktische Bezüge. Zudem trägt der spontane, improvisierte Ablauf der
Aktionen dazu bei, daß der Zuschauer aus seiner traditionell passiven
Rezeptionshaltung heraus dazu provoziert wird, auf das Dargestellte durch
Kommentare, Zwischenrufe, Beifall oder Ablehnung zu reagieren. Das Theater wird
somit zum Experimentierfeld auf dem – in der Interaktion zwischen
Künstler und Rezipient – die Wirkungen der neuen Ausdrucksformen
unmittelbar am Publikum selbst überprüft werden können. Diese veränderte
Rezeptionshaltung überbrückt die Trennung, die für das konventionelle
Theater der naturillusionistischen Guckkastenbühne noch bis heute charakteristisch
ist: Der Zuschauer wird räumlich von den Aktionen auf der Bühne getrennt.
Man weist ihm eine rein passive Funktion zu, indem er für die Dauer der
Aufführung ein möglichst naturgetreues Abbild der außertheatralen Wirklichkeit
simuliert bekommt, wodurch das Kunstwerk zum Objekt des Konsums wird und
dessen qualitative Bewertungskategorien auf eine möglichst perfekte Illusionsbildung
ausgerichtet sind. Der futuristische Aktionscharakter, der diese Trennung zu
überbrücken sucht, äußert sich ebenfalls in einer anti-traditionalistischen
Vermittlung von Erfahrung. Das Dargestellte folgt nicht mehr den Prinzipien
einer rationalen Vermittlung von Information durch eine logisch linear
aufgebaute Handlung. Der synthetische Aktionscharakter baut auf das sinnliche
Erleben des Dargestellten, das sich in enger Weise an die Wahrnehmung der
Alltagswirklichkeit im technischen Zeitalter orientiert. Im futuristischen Sinn
ist damit eine Wahrnehmung gemeint, die die erfahrbare Gegenwart als eine Summe
von simultanen Eindrücken charakterisiert.
Das Prinzip der simultanen Darstellung und gleichzeitig der
Darstellung von Simultaneität ist ein zentraler Bestandteil der futuristischen
Kunst- und Theatertheorie, um – gemessen an der Alltagswahrnehmung
– ein entsprechendes Perzeptionsmuster zum Kunstprodukt zu
schaffen.
Auch im Manifest Das futuristische synthetische Theater (1915)
spielt der Aspekt der Simultaneität eine zentrale Rolle, gleichwohl sich hier
ein modifiziertes Bühnenkonzept abzeichnet, indem das improvisierende
Moment der serat�s zugunsten einer textbasierenden Inszenierung zurückgenommen
wird. Die für die futuristische ästhetik zentralen Ausdrucksprinzipien der
Dynamik, Technik und Simultaneität werden auf die Produktion eigener
futuristischer Stücke übertragen. Im September 1913 wird das nach einer
französischen Vorlage von Marinetti umgeschriebene Stück Elettricit�
aufgeführt. Es zeigt den Versuch, durch die Form der sintesi, der dramatischen
Kurzform, futuristische Stücke zu konzipieren, die nicht mehr spontan
inszeniert werden, sondern mit professionellen Schauspielern und einer
Textvorlage das synthetische Theater praktisch umzusetzen versuchen. Auch die
verdichtete Form der futuristischen sintesi wendet sich gegen einen logischen
linearen Handlungsaufbau, dessen Ziel die Abbildung eines empirischen
Wirklichkeitsausschnitts ist. Für Marinetti und die Mitunterzeichnenden dieses
Manifests zeigt sich gerade die Wirklichkeit als fragmentarisch und alles
andere als logisch strukturiert, wenn er im fünften Punkt charakterisiert: »Die
Ereignisse in der Wirklichkeit passieren *überfallartig,
schubweise in lose miteinander verbundenen Bruchstücken, unzusammenhängend,
konfus, verwirrend und chaotisch.«[48] Dieser Perspektive
auf die Alltagswirklichkeit trägt das synthetische Theater rechnung, indem
es seinerseits diese Faktoren als stilbildend auf die futuristische sintesi
überträgt.
Der intermediale bzw. interdisziplinäre Ansatz der
futuristischen Kunsttheorie ist, bezogen auf die Theatertheorie, gut
herauslesbar an den Forderungen Umberto Boccionis, Giacomo Ballas,
Fortunato Deperos und vor allem dem Raumbühnenkonzept Enrico Prampolinis,
der die grundlegende Veränderung der Guckkastenbühne in eine autonome,
abstrakte Bühnengestaltung fordert. Er orientiert sich dabei an den
Reformmodellen zur Bühnengestaltung, die um die Jahrhundertwende von Appia
und Craig entwickelt werden und später in der Bauhaus-Bühne ein zentraler
Aspekt in der Gestaltung der Bühnenarchitektur werden. Nach Prampolini soll die
Bühnengestaltung gleichwertiges Element neben der literarischen Vorlage
und der dramatischen Inszenierung des Stoffs sein:
»Autor und Bühnenbildner müssen zusammenarbeiten, um die
bildhafte und die literarische Komponente der Aufführung in einer umfassenden
Synthese als Einheit auszudrücken. Der Bühnenbildner soll nicht länger bloß
ausführendes Organ sein, sondern als eigenständiger Künstler
anerkannt werden.«[49]
Vergleichbar mit dem zeitlich später einsetzenden
Bauhaus-Theater drängt die futuristische Bühnentheorie auf eine Synthetisierung
des Theaters mit der bildenden Kunst und der Musik. Das futuristische
Raumbühnenkonzept, das über die Architektur, die Farbe und die Lichtgestaltung,
Bewegung und Dynamik in einer beweglichen, abstrakten Bühnengestaltung
ermöglichen soll, nutzt und verlangt nach einer maximalen Ausnutzung der
modernen technischen Möglichkeiten. ähnlich, wie der Entwurf von Martin Gropius
für das Bauhaus-Totaltheater nie realisiert worden ist, zeugen die Kritiken der
Aufführungen futuristischer Stücke von einer Bühnentechnik, die gegenüber ihrer
konzeptuellen Anlage und theoretischen Manifestation
hinterherhinkt und die angestrebte Wirkung behindert:
»Dieser Ausblick auf ein eigenes Theater muß vor allem vor
dem Hintergrund der unzureichenden technischen Ausstattung der bestehenden
Theater für die futuristischen Stücke gesehen werden. Immer wieder weisen die
Kritiken besonders auf die viel zu langen Umbaupausen – bis zu
einer halben Stunde bei den nur drei Minuten dauernden ›sintesi‹ – hin.«[50]
2.2.4 Anti-künstlerischer Impuls
Die Betrachtung der futuristischen Manifeste in Hinblick auf
ein neues Bühnenkonzept läßt zwei Hauptmerkmale deutlich werden: Die
Futuristen versuchen über das Medium des Manifests eine strukturierte
Argumentation zu entwickeln, die die generelle Abwehrhaltung gegenüber
existierenden Konventionen theoretisch fundieren soll. Die Analyse
richtet sich dabei nicht auf einzelne Aspekte des Kunstsystems, die es zu
überwinden gilt. Im Kontrast zu einer Reformbewegung verneinen
die Futuristen das gesamte Kunstsystem, indem sie die Gesamtheit
bisher gültiger künstlerischer Codes zu überwinden bzw. zu erneuern suchen.
Die etablierten künstlerischen Normen werden in einer aggressiven Anti-Haltung
sowohl im Manifest wie auch in der praktischen Arbeit abgelehnt. Die Zielgruppe
(also der Zuschauer) der dramatischen Aufführung wird bewußt zum
Widerspruch und zur Ablehnung des Vorgeführten herausgefordert, indem seine
konventionalisierte Erwartungshaltung gegenüber dem Theater auf breiter
Ebene enttäuscht wird. Der in bewußter Absicht herbeigeführte Bruch mit
der existierenden ästhetik richtet sich in gleicher Weise gegen
formale wie auch inhaltliche Aspekte des bürgerlichen Theaterapparats. Die
gewählte Form des Variet�theaters repräsentiert ebenso wenig eine
kanonisierte Vorstellung von Hochkultur wie die Herauslösung des
Zuschauers aus der gewohnten passiven Rezeptionshaltung durch die offene
Provokation in gleicher Weise mit dieser Vorstellung bricht. Aber auch auf der
Ebene des dramatischen Stoffs, der Funktion des Schauspielers, der Sprache und
des Bühnenbilds, brechen die Futuristen mit der gewohnten ästhetik, indem jeder
einzelne Aspekt im Sinne einer Erneuerung und Wahrnehmungsbeeinflussung
umbewertet wird.
Dies entspricht nach den im ersten Kapitel entwickelten
Gedanken eindeutig einer Avantgarde, die sich zur Durchsetzung ihrer
künstlerischen Ziele nicht einem Reformmodell verpflichtet, sondern zunächst
die gesamte etablierte Vorstellung der gewählten Kunstgattung überwindet,
um über die theoretische Neuformulierung eine neue ästhetik zu
konstituieren. Der Gestus des Futurismus sollte also unter diesem Aspekt als
anti-künstlerischer Impuls gewertet werden, der in seiner äußerung und
Radikalität – man denke dabei an die Verherrlichung des Kriegs, den die
Futuristen als wichtige Grundlage zu Erneuerung von Kunst und Leben sehen
– den kunsthistorischen Ursprung und Ausgangspunkt einer
Anti-Kunst-Bewegung im 20. Jahrhundert darstellt.
Die bestehende Disparität, die das futuristische Manifest in
Bezug auf den logischen Aufbau seiner Argumention gegenüber alogischen
Strukturen (vgl. Kap. II. 3) innerhalb der Kunstpraxis aufweist, unterscheidet
den Futurismus deutlich von dem im Folgenden zu thematisierenden Dadaismus. Die
spezifischen nationalen Voraussetzungen, auf die die italienischen
Futuristen mit ihrem Bühnenkonzept antworten, zeigen, wie wichtig es ist, den
Futurismus (überhaupt jede Avantgarde-Bewegung), neben ebenso bedeutsamen
allgemeinen zeitgeschichtlichen, medialen und geistesgeschichtlichen
Grundlagen, auch im nationalen Kontext zu verorten. Bewußt wurde der
vielfache Vorwurf, daß Marinetti und ein Teil der Futuristen später mit dem
italienischen Faschismus sympathisiert haben, ausgeklammert, da ihre
spätere politische Affirmation in ihrer allgemeinen Euphorie für radikale
Umwälzungen begründet liegt und einer eigenen Analyse bedarf.
Generell wird der Futurismus geprägt von einem
formal-ästhetischen Ansatz, der dem konventionalisierten Kunstsystem eine
modifizierte ästhetik entgegenzusetzen und zu etablieren versucht.
Die Motivation für eine (im Kontrast zu den Dadaisten) rational begründete
Neuformulierung der vorherrschenden ästhetik läßt sich unter zwei Aspekten
zusammenfassen: Zunächst richtet sich die anti-künstlerische Haltung der
Futuristen gegen jegliche Art von normativen Traditionen, die Kunst ihrer
Auffassung nach zu einem hegemonialen Objekt der bürgerlichen Unterhaltung
eingrenzt. Da somit jeder künstlerische Antrieb sich diesem System unterwerfen
muß, sucht man nach einer Funktionalität, in der der Kunst eine neue Rolle
zugewiesen wird.
Vor dem Hintergrund des zeitgeschichtlichen Umbruchs, den
der Beginn des 20. Jahrhundert markiert, suchen die Futuristen nach einem
ästhetischen Ausdruck, der auf die veränderten Lebensbedingungen des
Menschen eingeht. Der Mensch soll in seiner Wahrnehmung für die neuen
technischen Errungenschaften, die schnelleren Fortbewegungs- und
Kommunikationsformen sensibilisiert werden, um die zunehmende Beschleunigung
von gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Innovationen
begreifen und verarbeiten zu können. Indem die Futuristen Themen wie: Technik,
Geschwindigkeit, Simultanität zum Inhalt ihrer künstlerischen Arbeiten machen,
bekommt die für die Avantgarde als typisch charakterisierte Forderung nach
einer Kunst, die Kunst und Leben wieder in einen engeren Zusammenhang bringt,
ihre spezifische Bedeutung.
Bei der 1916 einsetzenden Dada-Bewegung, als zweitem Vertreter
der historischen Avantgarde, wird man beobachten können, wie durch die
Erfahrung des Krieges und einer nicht national fixierten Kunst-Bewegung, der
Aspekt einer für die gesamte Gesellschaft relevanten Kunst anders thematisiert
wird. Der Ausgangspunkt einer anti-künstlerischen Verneinung der
etablierten Kunst und ihres Vermittlungsapparats ist vergleichbar,
unterscheiden muß man jedoch die Methoden und die Legitimation, mit der
die Veränderung herbeigeführt werden soll.
Beiden Bewegungen sind zwei Aspekte auf jeden Fall
gemeinsam, auch wenn die konkreten Ziele teils sehr voneinander abweichen: der
Versuch, die der Unterhaltung unterworfene bürgerliche Kunst lebenspraktisch
umzufunktionalisieren, was zu einer generellen Veränderung der ästhetik
und des Kunstsystems führen soll. Offensichtlich wird dies an der
interdisziplinären Orientierung, die auf breitester Basis die verschiedenen
Medien von Malerei, Fotographie, Theater, Literatur, Musik, Architektur und
Film in einer Gruppenbewegung miteinander vereint und unter der
gemeinsamen Zielrichtung im regen Austausch miteinander zusammenarbeitet. Die
Futuristen entwerfen dabei ein ästhetisches Konzept, das sich aus Provokation
und einem modifizierten Produktions- und Rezeptionsansatz zusammensetzt,
zu bildnerischen und performativen Kunstformen, die Gesellschaft in
ihrer Wahrnehmung für die Anforderungen eines technisierten,
schnelleren Lebensrhythmus sensibilisieren soll.
Die Ablehnung gegenüber Traditionen, Regressionen, dem
konventionalisierten Kunstapparats und die Erzeugung eines
direkteren Zusammenhangs zwischen Kunst und der Alltagswirklichkeit, ist
Futurismus und Dada gemeinsam. Die spezifischen Ausprägungen und die
zu beobachtenden unterschiedlichen Zugänge sollen im folgenden Kapitel
nachgezeichnet werden.
2.3 DADA – Die Anti-Geste
»DADA will die Welt nicht illustrieren oder beschreiben,
sondern direkter Ausdruck ihrer
Auflösung und damit Synonym für
das in ständiger Auflösung befindliche Leben selbst sein.«[51]
2.3.1 Exil – Schweiz – Cabaret Voltaire
Bei aller Verneinung der positivistischen Orientierung des
19. Jahrhunderts mit ihrem vernunft-geleiteten Weltbild, das der Futurismus
aufzulösen versucht, weisen die Manifeste Marinettis und seiner Mitstreiter
eine innere Strukturiertheit auf, die auf der Basis einer logischen
Argumentation und Analyse die Eliminierung dieses Habitus innerhalb ihrer
Kunst fordern. Wie oben gezeigt, spielen dabei die unbedingte Befürwortung
technischen Fortschritts, die sich daraus verändernden Lebensbedingungen und
die Kriegsverherrlichung, eine entscheidende Rolle für eine futuristische
Definition von Kunst, die sich in ihren zahlreichen Manifesten
konstituiert.
Als sich Dada 1916 mit der Gründung des Cabaret Voltaire in
Zürich formiert, stehen dessen Gründer unter dem Einfluß des I.
Weltkriegs, dessen Auswirkungen sie letztlich ins Schweizer Exil
zwingt. Die Futuristen befürworten einen Krieg, von dessen Zerstörungskraft
sie eine gesamtgesellschaftliche Reinigung erwarten, der – auch
auf die Kunst bezogen – zu einem Neuanfang führen soll. Die exilierten
Künstler, die in der Schweizer Hauptstadt aus vielen Teilen Europas unter der
Einwirkung des I. Weltkriegs aufeinandertreffen, verbindet gerade eine
gänzlich konträre Position zu Krieg und Erneuerung. Die gemeinsame Basis
zwischen Ball, Huelsenbeck, Janco und Tzara liegt gerade in ihrer ablehnenden
pazifistischen Haltung zum Krieg und in ihrem tiefen Skeptizimus gegenüber
dem angebrochenen industriellen Zeitalter begründet. Dies mag vor dem Hintergrund
deutlicher werden, daß gerade ein Großteil der Expressionisten, in deren
Kreis sich einige Dadaisten vor Dada bewegt haben, diesen Krieg ebenfalls mitunterstützt
haben. So verwundert es nicht, daß die Dadaisten – zunächst unabhängig
von ästhetischen Faktoren – den Expressionismus vehement
ablehnen und auch gegen die anderen Intellektuellen, die den Krieg in gleicher
Weise befürwortet haben, eine mehr als tiefe Skepsis empfinden.
Unter diesem Aspekt zeigen sich zwei erste Unterschiede
zwischen den beiden Avantgarde-Gruppen, die für die dadaistische
Kunstauffassung von Bedeutung sind. Von Anfang an ist die originäre
Schweizer Dada-Gruppe – vor dem Exilhintergrund ihrer Entstehung
– eine international durchmischte Bewegung, die somit keine
nationalen Ziele mit ihrer anti-traditionellen Kunstauffassung verfolgt,
so wie es für die italienischen Futuristen charakteristisch ist. Ihnen geht es
um die Erneuerung einer italienischen Kunst, die gesamteuropäisch als
rückständig gesehen wird, während Dada mit Hugo Ball, Richard Huelsenbeck,
Marcel Janco, Tristan Tzara, Emmy Hennings sich in der Entstehungsphase
auf keine gemeinsame nationale Identität berufen können und – davon ist
auszugehen – auch nicht wollen. Hans Richter charakterisiert die Ausgangssituation,
unter der sich die Dada-Bewegung in Zürich formiert:
»Nur in dieser komprimierten Atmosphäre konnten sich
grundverschiedene Menschen in einer tätigen Gemeinschaft
zusammenfinden. Es schien geradezu, als ob die Verschiedenartigkeit,
ja Unvereinbarkeit der Charaktere, der Herkunft, des Lebensbildes der
Dadaisten jene Spannung ergab, die dem zufälligen Zusammentreffen
von Leuten aus aller Herren Länder schließlich die gleichgerichtete ›dynamische‹
Energie lieferte.«[52]
Der entwicklungsgeschichtliche Abriß des Cabaret Voltaires
ist in zahlreichen Publikationen hinreichend belegt und soll hier nur punktuell
thematisiert werden. Da in dieser Betrachtung die Aspekte einer am Theater
orientierten Anti-Haltung und die konkreten dramatischen Arbeitsmethoden
der jeweiligen Avantgarde-Stömungen verfolgt werden sollen, gilt es zunächst
festzuhalten, daß sich die Dadaisten mit ihrer Form des Kabaretts einem anderen
Medium zur Vermittlung ihres unkonventionellen Konzepts bedienen, als es
die Futuristen mit dem Variet�-Theater zu erreichen suchen.
Variet� und Kabarett entwickeln sich gegen Ende des 19.
Jahrhunderts als spezifische Formen des Volks- und Unterhaltungstheaters,
die sich inhaltlich und auf die intendierte Zielgruppe bezogen, deutlich
voneinander unterscheiden. Das dadaistische Kabarett hat seinen eigentlichen
Ursprung im Pariser Chat Noir, das 1881 in Montmartre gegründet wird und als
»die Geburtsstunde des Kabaretts«[53] gilt. Im Pariser
Armen- und Künstlerviertel versammeln sich Maler, Dichter und Musiker, um vor
der künstlerischen Boheme und einem großbürgerlichen Publikum
die priviligierte Gesellschaft mit Hohn und Spott zu beschimpfen. Rasch
breitet sich die Form des Kabarett in Paris, Frankreich und auf ganz Europa
aus, und findet »sich erst Jahrzehnte später bei den Publikumsbeschimpfungen
der Dadaisten wieder«.[54]
Kabarett und Variet� ist gemeinsam, daß sie sich aus
verschiedenen Programmteilen zusammensetzen, die dem Publikum
nacheinander präsentiert werden. Das Variet� jedoch entspricht mit seinen
schnellen Wechseln aus Komik-, Tanz-, Musik- und Akrobatiknummern vielmehr dem
bürgerlichen Unterhaltungsapparat, als das Kabarett, das sich
bei den Dadaisten – weniger volksnah orientiert – durch ironische
und satirische Elemente eher an ein intellektuell-kritisches Publikum
richtet. Die Form der kabarettistischen Unterhaltung fordert sehr viel mehr an
Vorbildung auf Seiten des Zuschauers und dessen geistige Mitarbeit, da sich die
ideologie-, polit-, und sozial-kritischen Elemente des Kabaretts oft
subtil hinter vordergründigem Witz und Satire verbergen. Unter dem Aspekt der
Zensurpraxis der wilhelminischen Zeit ist dies zur Formulierung einer
kritischen Gegenperspektive auch existentiell notwendig, da eine offene Kritik
an den bestehenden Verhältnissen durch Aufführungsverbote oder zumindest
Streichungen üblicherweise zu verhindern gesucht wurde. Vorwiegend literarisch
– versteht sich das Kabarett als ironischer Beobachter und Kommentator
seiner Zeit. Das Kabarett als relativ junge Form zur szenischen Darstellung
bestimmter Inhalte, wird von den Dadaisten – wie noch zu zeigen ist
– in modifizierter Form für ihre Aufführungspraxis übernommen.
Entscheidend für die Entwicklung der Gruppe und die
gemeinsame Konstituierung der dadaistischen (Anti-)Kunstauffassung
und Aktionismus ist die von Richter (vgl. Zitat oben) angesprochene
Verschiedenartigkeit seiner Mitglieder, die das Bild Dadas prägen. Hugo Ball,
der das Kabarett mit seiner Freundin Emmy Hennings in der Spiegelgasse gründet,
wird als besonnener, gutmütiger und nachdenklicher Schriftsteller und
Theaterregisseur beschrieben, der im genauen Gegensatz zum rumänischen
Lyriker Tristan Tzara steht, dessen feuriger, übersprühender Charakter der
Angriffs- und Provokationslust der dadaistischen Soireen entspricht.
Letztlich ist das Antipodische der verschiedenartigen Wesenszüge und
künstlerischen Herkunft, das ebenso auf Richard Huelsenbeck und Marcel Janco
zutrifft, ein Moment, das die Dadaisten weder durch eine Führungspersönlichkeit,
noch durch gruppeninterne Absprachen zu unterdrücken suchen. Jeder
entfaltet aus seinen spezifischen Voraussetzungen heraus eine eigene
›Dada-Persönlichkeit‹, die sich in Ergänzung zu dieser heterogenen Gruppe
konstituiert. Man erkennt die Differenz zu den Futuristen, die doch im starken
Maße von der Einzelpersönlichkeit Marinettis bestimmt und gesteuert werden.
Die angesprochene Unterschiedlichkeit innerhalb der Züricher
Gruppe, entspricht einem übergreifenden Bild der dadaistischen Bewegung
als Ganzem, da sich international, teils gleichzeitig (siehe Dada-New York),
teils nacheinander (Dada-Berlin, Dada-Hannover, Dada-Köln), voneinander
abweichende Strukturen und Orientierungen zeigen. Da sich die
Beobachtungen auf ein avantgardistisches Theater konzentrieren
und einige allgemeine Thesen zum dadaistischen Beitrag herausgearbeitet werden
sollen, die im Zusammenhang der historischen Avantgarde, den
Performance-Aktionen der 60er Jahre und aktuellen Tendenzen bei Christoph Schlingensief
stehen könnten, werden die Abweichungen der einzelnen Dada-Zentren
untereinander vernachlässigt.
2.3.2 Kunst – Rationalismus – Aktion
Im Gegensatz zu vielen Künstlern und Intellektuellen der
Zeit, die den Krieg als willkommene Chance für einen gesellschaftlichen Umsturz
sehen, lehnen die Dadaisten nicht nur den Krieg als widersinnig ab, der ihnen
schließlich die Möglichkeit nimmt, in ihrem jeweiligen Heimatland ihre
bisherige Arbeit als Künstler fortzusetzen. Auch die euphorisch visionäre Zukunftsgläubigkeit
der Futuristen, die aus den neuen Kommunikations- und Fortbewegungsmitteln,
den allgemeinen technischen Innovationen entsteht, entspricht in keiner
Weise der dadaistischen Grundhaltung, die weder am Vergangenen noch am
Zukünftigen orientiert ist. Hugo Ball schreibt in seinen Memoiren Die
Flucht aus der Zeit über die euphorische Technikbegeisterung seiner
Zeitgenossen:
»Der Glaube an die Materie ist ein Glaube an den Tod.
[...] Die Maschine verleiht der toten Materie eine Art Scheinleben. [...] Sie
ist ein Gespenst. Sie verbindet Materien untereinander und zeigt dabei eine
gewisse Vernunft. Also ist sie der systematisch arbeitende Tod, der das Leben
vortäuscht. Sie lügt noch flagranter als jede Zeitung, die von ihr gedruckt
wird.«[55]
Anders als die Futuristen sehen die Dadaisten in der Technik
keinen Ausgangspunkt für die Erneuerung des Lebens, sondern wie Ball es
deutlich ausdrückt: »einen Feind des Lebens«. Dies ist im Zusammenhang der
dadaistischen Themenwahl gerade in Bezug auf die Verarbeitung
zeitbedingter Eindrücke in ihrer Kunst von Bedeutung und von einer
futuristischen Perspektive zu unterscheiden. Die dadaistische
äußerung ist am gegenwärtigen, momentanen Ausdruck des Lebens
interessiert, an einem auditiven und visuellen Spiel, das die nicht
strukturierte, chaotische Bewegung des Lebens in ihrem sich ständig
wandelnden äußeren Erscheinungsbild zeigt. Die Futuristen verstehen unter dem
Begriff Bewegung, der – wie schon oben beschrieben – ein zentrales
Thema ihrer Kunstauffassung darstellt, ein Fortschreiten in einer Zeit, die
sich durch die technischen Innovationen immer mehr beschleunigt. Das simultane
Aufeinandertreffen verschiedenartiger Sinneseindrücke wird von ihnen
in eine ästhetische Formsprache übersetzt, die dem Zuschauer über das Medium
Kunst eine dementsprechende Kunst- und Realitätswahrnehmung ermöglichen
will. Dies markiert den Bruch und das zunächst anti-künstlerische im
Vergleich zur bisherigen Vermittlung von Inhalten in der traditionellen Kunst.
Auf dem Theater vor Futurismus und Dada wird dem Betrachter Inhalt über
eine zeitliche Linearität vermittelt, die zwar in der Zeit hin und
herspringen kann, das ordnende System des Nacheinander wird damit nicht
verlassen. Plötzliche Szenenwechsel, Rück- bzw. Vorblenden und zeitgleiche
Handlungslinien sind zwar schon länger Bestandteil des konventionellen
Theaters, die Struktur der Darstellung auf der Bühne bleibt auf ihre
Visualisierung bezogen, in der gewohnten Linearität. Szene folgt auf Szene. Ein
Gegenkonzept zu dieser Vorstellung beschleunigt und verkürzt nicht nur den
Ablauf der Szenenfolge, sondern zeigt zeitlich parallel Ablaufendes tatsächlich
nebeneinander, simultan. Waren bisher gleichzeitig ablaufende
Handlungsebenen in den Dienst der psychologischen Entfaltung von
Charakteren im Stück gestellt, erheben die Futuristen und Dada die
Gleichzeitigkeit selbst zum Inhalt, um sich von der gewohnten Konvention, eine
Handlung darstellen zu müssen, zu befreien.
Die Frage nach dem Antrieb solche Konventionen zu
durchbrechen und die gesamte Kunsttradition zu verneinen, liegt darin
begründet, sich ein Instumentarium zu verschaffen, das dem Menschen die
Funktionsprinzipien von individuell erfahrenen Realität vorführt. Die
Funktionsmechanismen des Lebens zu zeigen, ist auf einer anderen Ebene
anzusiedeln, als sozialkritisch oder politisch orientiert ein logisch
möglichst geschlossenes Geflecht von Personen und Handlungen zu entwickeln, das
die intendierte Stellungsnahme künstlerisch untermauert. Es geht um einen
abstrakteren Annäherungsversuch, das Leben so abzubilden, wie es sinnlich
erfahrbar sein könnte. Auf dieser Basis formiert sich mit Dada eine Gruppe, die
die traditionelle, konventionsbehaftete, aber auch die vorherrschende Kunst
radikal ablehnt und zu überwinden sucht. Was sich auf dieser Grundvoraussetzung
an Tendenzen zeigt, macht allerdings die Unterschiedlichkeit zum
italienischen Futurismus deutlich. Die eingeforderte Eliminierung von
logischen und rationalen Kategorien innerhalb der futuristischen
Anti-Kunst-Programmatik soll nach Marinetti der Sensibilisierung des Menschen
dienen, der dadurch auf die Anforderungen des industriellen Zeitalters und
der sich steigernden Geschwindigkeit aller gesellschaftlichen Bereiche
vorbereitet wird. Die oben schon angedeutete Euphorie und Progressivität
gegenüber für den sich abzeichnenden Veränderungen, teilt Dada in keinster
Weise. In Zürich treffen sich Künstler, denen ein starker Skeptizismus gemeinsam
ist, der sich nicht allein auf die Vergangenheit bezieht, sondern gerade auf
die erfahrbare Gegenwart. Ein Skeptizismus, der das vernunftdiktierte Zeitalter
des Idealismus ablehnt, ebenso wie den – auch in avantgardistischen
Kreisen des Expressionismus und Futurismus mitgetragenen –
als ›Reinigung‹ definierten Revolutionsgedanken, der letztlich den
menschenverachtenden Weltkrieg mitunterstützt. Stellvertretend für den
ablehnenden Skeptizismus der Dadaisten schreibt Hugo Ball:
»Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier
gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, daß es dieser erniedrigenden
Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. [...] Unsere freiwillige
Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zuschanden machen.«[56]
Dies impliziert die Richtung, in die der Anti-Rationalismus
bei den Dadaisten in die Kunst eindringt. Es ist nicht die futuristische
Zielrichtung der Sensibilisierung, sondern der künstlerische oder
anti-künstlerische Reflex einer dadaistischen Weltsicht, die die Gegenwart
als chaotisch empfundene Wirklichkeit in direkter Form durch Sinnvernichtung,
Chaos und spontane Improvisation innerhalb ihrer Aktionen abbilden will.
Das Absurde als sinnvernichtendes, aber gleichzeitig produktives Element wird
von den Dadaisten zu einer kreativen Form stilisiert, die einem direkten
Ausdruck ihrer Wahrnehmung von Realität entspricht, in der Ideologie, Politik,
Kunst und Erkenntnis generell keine Konsistenz zugesprochen werden
kann. Eine grundlegende Disposition der Dadaisten, die es ablehnen
Wirklichkeit nach logischen Kriterien abzubilden, die gegen Erklärungsmuster
rebellieren und das Sinnfälligmachen von Funktionszusammenhängen
gesellschaftlicher oder künstlerischer Mechanismen explizit verweigern,
besteht darin, den Zufall als gestalterisches Mittel zu benutzen: »Im
künstlerischen Produktionsprinzip der Dadas – dem Zufall – drückt
sich die Verweigerung jeder rationalen Einfluß-nahme auf das Leben und damit
auf die Kunst durch den Menschen am deutlichsten aus.«[57]
Letztlich ist es für den Dadaisten der Zufall, der als
Grundprinzip den Ablauf des Momentanen bestimmt und bislang vom Menschen durch
Vernunft, rationales Handeln und Erkenntnismuster zu kontrollieren
versucht wurde. Darin besteht die orginäre dadaistische Anti-Geste, die sich über
das Kunstsystem hinaus, gegen kognitives Erfassen von Realität und gegen einen
gestalterischen Intellektualismus wendet und in der direkten, intuitiven
Aktion das Leben abbildet, so wie es sich aus der Situation ergibt. Unter
dieser Grundannahme wird es nachvollziehbarer, in welcher Form Kunst und Leben
ineinander übergehen und die Trennung beider Kategorien überwunden werden soll.
Realität existiert nur im spontanen, gegenwärtigen Ausdruck dessen, was die
Wahrnehmung zufällig, nicht gesteuert aufnimmt und in der intuitiven Reaktion
wieder in einer Aktion Verwendung findet. Dieser Ausdruck repräsentiert einen
zeitlich und rational nicht faßbaren Ausschnitt der Wirklichkeit, der damit das
subjektive Empfinden des Künstlers wiederspiegelt und gleichzeitig zum (Anti-)Kunstakt
wird. Die Aktion selbst, während sie passiert, ersetzt das fertige, geplante
Kunstwerk. Der Künstler macht Kunst, indem er einen momentanen Ausschnitt
seiner Realität in der Aktion abbildet, die Kunst und sein Leben direkt
sichtbar miteinander verbindet. Dies macht den Unterschied der dadaistischen
Aktion zu konventionellem Theater aus, denn die Kunst des Schauspielers
besteht darin, das vorgefertigte Stück möglichst gut abzubilden, ohne daß es
einen unmittelbaren Bezug zu seinem persönlichen Leben oder zur
Wirklichkeit geben muß.
Der Futurismus hat in seinen Manifesten durch eine
strukturierte und möglichst nachvollziehbare Argumentation zu begründen
versucht, warum die traditionelle Kunst nicht länger aufrecht zu halten
ist. Gleichzeitig resultiert aus der theoretischen Auseinandersetzung ein
formal-ästhetisches Konzpt, das versucht, die Thesen innerhalb einer neuen
ästhetik konsistent zu machen. Als Beispiel ließe sich hier das futuristische
Bildkonzept anführen, das im Medium der Malerei die Gedanken zur simultanen
Wirklichkeitserfahrung und Bewegungsdarstellung in der
Zweidimensionalität des Bilds festzuhalten. Es bleibt ein Widerspruch erhalten,
indem eine futuristische Kunst proklamiert wird, die sinnliche Erfahrung
zum Thema erhebt und gleichzeitig aber über die rationale Legitimation ihrer
Prinzipien die Wahrnehmung von vornherein steuert.
Der Aspekt der Simultanität spielt auch bei Dada eine
wichtige Rolle. Die Verarbeitung dieses Wahrnehmungsmusters führt die
Dadaisten aber zu der generellen Ablehnung, simultan ablaufende Prozeße
statisch fixieren zu wollen. Nur in der vom Zufall geleiteten Aktion läßt sich
Simultanität abbilden und wird gleichzeitig wieder Ausdruck des Lebens selbst.
Als künstlerisches Prinzip entspricht dieser Vorstellung das dadaistische
Simultangedicht, indem mehrere, unzusammenhängende Teile der Realität, so
zum Beispiel simulierte Umweltgeräusche, einzelne Sprachlaute oder
literarische Fragmente, gleichzeitig und unvermittelt simultan gegen- oder
nebeneinander rezitiert werden. In gleicher Weise läuft die tagtägliche
Wahrnehmung des Menschen ab, da wir ständig von vielen akkustischen und
optischen Quellen umgeben sind, die gleichzeitig auf uns einströmen und teils
nicht verarbeitet aufgenommen werden. Dieses alltägliche ›Durcheinander‹
von Sinneswahrnehmungen bildet die Dada-Aktion in einem
1:1-Verhältnis ab und wird zum Synonym für das Leben selbst, ohne Hinzufügung
eines ordnenden Prinzips, das durch dieses Verfahren eine zielgerichtete
Einflußnahme auf die Wahrnehmung des Zuschauers erkennen läßt. Im Vordergrund
steht die direkte unvermittelte Abbildung von intuitiv erfahrener
Gegenwärtigkeit, was den Begriff des Kunstwerks, als konservierbarem Ausdruck
der Verarbeitung von den Ideen des Künstlers nachhaltig verändert. Die Aktion
repräsentiert eine Handlung, die einzigartig ist und sich zwar dokumentieren
läßt, dadurch aber ihren ursprünglichen Charakter verliert und als Kunst nur im
Augenblick ihres Geschehens materiell vorhanden ist. Unter diesem Gesichtspunkt
ist die Dada-Aktion der Ausgangspunkt alle künstlerischen Strömungen, die
mit dem normativen Werkbegriff brechen.[58]
Charakteristisch für die dadaistische (Anti-)Kunstpraxis ist
der Prozeß des Zustandekommens der Aktion, die vom Zufall geleitete,
spontan improvisierte äußerung. Diese Orientierung und Arbeitsweise
durchbricht ein abendländisches Kunstsystem, das sich bislang über den
originären Künstlerbegriff, die Musealisierbarkeit und
Materialität des Kunstwerks konstituiert hat. Die dadaistischen Aktionen
spiegeln in direkter Weise die angestrebte Verbindung von Kunst und Leben, da
bei Dada beide Bereiche ineinander überfließen und den gleichen Bedingungen
gehorchen:
»DADA als direkter Teil und Ausdruck des Lebens befindet
sich in einem steten Zustand des Wandels; es existiert nur in dem Augenblick,
in dem es entsteht und erhebt keinerlei Anspruch auf Dauer. Der
Entstehungsprozeß eines Werkes, die schöpferische Aktion wird damit wichtiger
als das fertige Kunstwerk, dem nur noch eine untergeordnete Rolle
zugemessen wird.«[59]
Der Prozeßcharakter der dadaistischen Aktion, der sich eben
jener funktionalisierten ästhetik verweigert, die sich im Futurismus noch
nachweisen läßt, gewinnt seine anti-künstlerische Tragweite durch die
scheinbare Willkür seiner Mittel und Ausdrucksformen. Die so oft zitierte
Verneinung Dadas gegen die Existenz von Kunst schlechthin muß allerdings im
Zusammenhang der dadaistischen Auffassung von einer Verbindung zwischen
Kunst und Leben gesehen werden, die eine Trennung beider Bereiche ausschließt.
Kunst geht über in Leben und das Leben wird damit künstlerisch. Ein Gedanke,
der sich an späterer Stelle bei den Aktionskünstlern der sechziger Jahre und
Christoph Schlingensief wiederfindet. Der Dadaist greift – emotional und
intuitiv geleitet – Elemente der Wirklichkeit auf und formt daraus den
spontanen Ausdruck dessen, was gleichzeitig Leben oder auch Kunst ist.
Jede solcher Handlungen unterstreicht dabei die unterstellte Intention, die
Vorstellung eines fertigen Kunstwerks zu unterlaufen und die Entstehung
bzw. das Geschehen der Aktion selbst in den Vordergrund zu rücken. Im
Folgenden soll dies mit Blick auf die dadaistischen Auftritte und
Verfahrensweisen – auch in Hinblick auf die Happening- und Aktionskunst-Bewegung
der 60/70er Jahre – noch genauer ausgeführt werden.
Nicht das Werk selbst, sondern wie es produziert wurde, war
von Bedeutung. Insofern stellte das Theaterspielen den reinsten Ausdruck eines
dadaistischen Kunstideals dar. Als Kunst ohne Vergangenheit und Zukunft, die
nur im Moment ihres Entstehens da(da) ist, ermöglichte das Theater die ideale
Umsetzung des Dada-Postulats einer Kunst ohne Dauer.[60]
2.3.3 Theater und Anti-Kunst(theorie)
Zunächst stellt sich bei einer theoretischen Auseinandersetzung
mit Dada – im Gegensatz zum
Futurismus – das Problem, daß die dadaistischen Manifeste kaum zu einer
Theoriebildung herangezogen werden können. Die zahlreich publizierten
Erklärungen korrespondieren mit der oben kurz umrissenen Programmatik
der Verweigerung gegenüber eines ordnenden, die Kreativität strukturierenden
Rationalismus. Für die Futuristen, die eine konkrete Einflußnahme ihrer Kunst
auf die Wahrnehmung des Zuschauers und gesellschaftliche Prozeße anstreben, ist
es notwendig, die provozierenden und teils rational unverständlichen
Kunstäußerungen erklärend in Manifesten zu begleiten. Da sich nun die Dadaisten
gegen jegliche Einlußnahme und Wirksamkeit von Erkenntnis, Politik,
Philosophie und Kunst aussprechen, fehlen auch dem überwiegenden Teil der
Manifeste theoretisierende Strukturen, die nachzuverfolgen wären. Unter diesem
Gesichtspunkt soll anhand der Auswertung verschiedener Dokumentationen
untersucht werden, ob in den Aktionen noch weitere Prinzipien zu einem
theoretisierbaren Konzept zu finden sind, die die Differenz der dadaistischen
Kabarettabende zu den futuristischen serat�s deutlich machen.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei schon angesprochen, der
ebenfalls den Unterschied zum Futurismus anschaulicher macht. Eine
Realisation von Kunst in öffentlichen Räumen, die eine (Anti-)Kunst
außerhalb des kulturell normierten Rahmens auch in alltäglichen
Situationen anstrebt, bleibt innerhalb des Futurismus uneingelöst.
Die öffentlichen Aktionen Marinettis und der anderen Futuristen sind auf
Reklameveranstaltungen beschränkt, indem sie Flugblätter in spektakulärer
Weise unter das Volk bringen, um für die futuristischen Abende zu werben. Der
künstlerische Rahmen bleibt somit, entgegen der in den Manifesten
eingeforderten Vernichtung der bisherigen Kunststätten, unangetastet, auch wenn
man sich mit dem Variet� einer darstellenden Form zuwendet, die nicht zum
bürgerlich definierten Kanon dramatischer Kunst gehört. Der anti-künstlerische
Impuls, der von den Veranstaltungen ausgehen soll, wird durch diesen Umstand
zumindest vermindert:
»Mit der Aufhebung eines speziellen Orts, an dem Kunstanstrengungen
von vornherein erwartbar sind, steigert sich die Verwirrung, die mit
unvorhersehbaren Aktionen, die man ansonsten als ›künstlerisch‹
einordnen und gegebenenfalls entschuldigen konnte, unweigerlich verknüpft
ist.«[61]
Zumindest was die Züricher Dadaisten angeht, bleiben die
Kabarettabende diesem konventionellen Kunstraum verhaftet. Der herbeigeführte
Bruch mit der klassischen Rezeptionserwartung, durch die vorgeführten Aktionen
unterhalten zu werden, wird in den Anfängen von Dada in Zürich formal und
inhaltlich erzeugt, indem dieser ›spezielle‹ Raum der Kunstanstrengung neu
besetzt wird. In seinen Memoiren an die Züricher Phase erinnert sich Richard
Huelsenbeck an die Verunsicherung der normierten Rezeptionshaltung des
Publikums, die in bewußter Weise von den Dadaisten provoziert wird:
»›Meine Damen und Herren‹, sage ich, ›auch die Polizei kann nicht ändern, daß
wir Ihnen keine Unterhaltung vorsetzen wollen, wie Sie im Kino oder im Theater
zu finden gewohnt sind [...]‹«[62]
Im Verlauf der Vortragsabende zeichnet sich allerdings ab, wie das Publikum
beginnt, sich auf die dadaistische Provokationen einzustellen und die ursprünglich
erzeugte Verwirrung der Aktionen wiederum zu einer Rezeptionserwartung
umschlägt: »Man rief, man wolle Dadaismus sehen.«[63] Ein direkter
Zusammenhang läßt sich nicht lückenlos herstellen, da sich die Züricher
Phase doch stark von Dada-Berlin unterscheidet. In Berlin konstituiert sich
aber mit den öffentlichen Provokationen des selbsternannten Oberdada Johannes
Baader[64]
eine zweite Richtung, die den angestammten Kunstraum verlassen hat und in
alltäglichen Situationen die bewußte Konfrontation sucht. Dies scheint der erste
avantgardistische Vorstoß zu sein, der die völlige Vermischung von Kunst und
Leben zu erreichen scheint. Zurecht diskutiert Thomas Hecken jedoch die
Frage, unter welchen Aspekten ein solcher Aktionismus, der den herkömmlichen
Rahmen des Kunstbetriebs verläßt, noch als Kunst zu definieren ist.[65]
Die Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt im Zusammenhang mit der Aktionskunst
und Happening-Bewegung der 60er Jahre und Christoph Schlingensiefs
Documenta-Aktion Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden überleben
für Deutschland[66]
aufzugreifen sein.
An dieser Stelle sollen zunächst die dadaistischen
Vortragsabende unter dem Aspekt diskutiert werden, ob eine – wie auch
immer geartete – theatrale Programmatik bei den Züricher
Dadaisten nachzuverfolgen ist.
Das oben beschriebene Grundprinzip der spontan
improvisierten Aktion, die keiner Intentionalität oder ästhetischem Schema
unterworfen ist, charakterisiert die provokativen Auftritte, die 1916 im
Cabaret Voltaire ihren Anfang finden. ähnlich dem futuristischen Variet� gilt
das Kabarett als eine nicht kanonisierte, unkonventionelle theatrale Form, die
unter dem Aspekt einer avantgardistischen Anti-Haltung gegenüber dem
bürgerlichen Theaterapparat eine starke Autonomie der angestrebten Ausdrucksformen
ermöglicht. Gattungsspezifisch repräsentiert das Theater die unmittelbarste
künstlerische Vermittlungsform, die die Produktions- und Rezeptionsebene
zeitlich und räumlich aneinander gekoppelt sind. Dies gilt sowohl für
konventionelle Formen des Theaters, wie eben auch für die avangardistischen
Vorstöße, die gerade diesen Aspekt für ihr verändertes Kon–zept nutzbar
machen wollen. Nur in der direkten Konfrontation ist das Para–digma einer
Annäherung von Kunst und Leben erreichbar, indem der ange–sprochene
Rezipient die Möglichkeit zur direkten Reaktion auf die (anti-)künstlerische
Aktion erhält. Anders als im musealen Rahmen, in dem die Rezeption nur
passiv möglich ist (d. h. der Betrachter erhält – außer der
Künst–ler ist selbst anwesend – nicht die Möglichkeit zur direkten
Interaktion mit dem/den Künstler/n) kann der Zuschauer auf die
unmittelbare Darstellung auf der Bühne Einfluß nehmen. Diese Aktivierung des
Zuschauers ist gleichzeitig Angriffspunkt auf das konventionelle
Theater und der Ausgangspunkt einer bestimmten Erneuerung. Das Kabarett
als theatrale Organisationsform, die die Dadaisten für ihre Aktionen
benutzen, kennzeichnet sich zudem durch eine hohe Unabhängigkeit von
sprachlichen, technischen und räumlichen Konventionen, die den gruppentypischen
Anti-Konzeptualismus unterstützt und den Zufall als dominierenden
Produktionsaspekt des Dada-Spiels ermöglicht.[67]
Die für das Kabarett allgemein typische Tendenz zur
politischen und gesell–schaftlichen Satire, die die Schulung eines
kritischen Bewußtseins beim Zu–schauer als Zielvorstellung beinhaltet,
eliminieren die Dadaisten durch die Aufhebung der Kategorien ›wahr‹ oder
›falsch‹. Sinnhafte Strukturen, die mittels bissig-humoristischer Elemente
gesellschaftliche Prozesse entlarvend offenlegen wollen, lassen die abendlichen
Vorstellungen durchweg vermissen. Die Dadaisten brechen so in radikaler
Weise mit einer typischen Erwartungshaltung des Publikums, die sich auf
die Nachvollziehbarkeit des Dargestellten gründet:
»Nun sahen sie sich plötzlich mit Menschen konfrontiert, die
den Prozeß der übermittlung, den Kausalnexus zwischen dem, was man bezahlt
und dem, was man kriegt, zwischen Erwartung und Erfüllung, zwischen
Unsicherheit und Bestätigung willentlich unterbrachen. Wir
waren Irrrationalisten, aber wir begnügten uns nicht damit, den Leuten ›nette
Verrücktheiten‹ vorzusetzen, die sie wie Weihnachtsgeschenke heimtragen
konnten. Wir zerschnitten das Band zwischen Haben und Sollen, zwischen Mensch
und Mensch, wir stellten die Frage nach der Notwendigkeit einer
Wertüber-mittlung, indem wir den Inhalt aus unserer Darstellung entfern-ten.«[68]
Eine Darstellung, die dem Zuschauer in sehr direkter Weise
vermittelt, daß er keine faßbaren Strukturen oder Inhalte präsentiert bekommt,
führt zwangsläufig zu einer provozierten Form des Unverständnis, das sich oft
in heftigem Widerspruch gegen die Akteure richtet. Huelsenbeck beschreibt
an mehreren Stellen seiner Memoiren, wie die Dada-Veranstaltungen in
Schlägereien und heftigen Gegenreaktionen auf seiten des Publikums eskalieren,
die ihrem Unverständnis und ihrer Enttäuschung, nicht in gewohnter Weise
unterhalten zu werden, Luft verschaffen. »Die Verwirrung vertiefte den
Zustand der Enttäuschung, und oft, wenn wir schon glaubten, wir hätten die Schlacht
gewonnen, fanden vergessene Komplexe gewaltsamen Ausdruck.«[69]
Als Begründung für dieses Verhaltensmuster, das auf die
bewußte Provokation und Aktivierung des Zuschauers zurückzuführen ist,
führt Huelsenbeck an: »Niemand kann Leute dafür tadeln, daß sie unser Auftreten
von ihrem normalen Unterhaltungsstandpunkt aus verurteilen. Sie hatten ihre
geistige Struktur durch konventionelle Werte erhalten.«[70] Der verharmlosende
Ton, der in dieser Charakterisierung mitschwingt, sollte allerdings
nicht darüber hinwegtäuschen, daß die angesprochenen Reaktionen des Publikums
von den Dadaisten bewußt provoziert wurden und das chaotische,
sinnvernichtende Pathos als Kern der dadaistischen Anti-Aktionen gegenüber
einer konventionalisierten Kunsterwartung zu sehen ist. Provokation und
Interaktion im Kontext der Zuschauerreaktion bedeutet für die Futuristen
hauptsächlich, Einfluß unter dem Aspekt der Wahrnehmungs- und
Bewußtseinsveränderung auszuüben. Diese Beeinflussung ist bei den Futuristen
einem konkreten Konzept unterworfen, das sich theoretisch aus den Manifesten
und praktisch aus den serat�s heraus entwickelt. In der Konsequenz
bedeutet dies die traditionelle ästhetik zu unterlaufen und an deren Stelle
eine neue futuristische ästhetik zu setzen. Der Zuschauer dadaistischer
Aktionen sieht sich demgegenüber einer ganz anderen Zielrichtung konfrontiert.
Dada bringt ein chaotisches Nebeneinander unterschiedlichster Eindrücke, die
den Menschen im Leben umgeben, als Prozeß des Kunstmachens auf die Bühne. Ein Prozeß
der nicht auf die Konstituierung von Bedeutung oder Aufklärung abzielt, sondern
unter der dadatypischen Prämisse der Sinnvernichtung dies improvisatorisch
im Prozeß des Machens selbst zum Thema der Abende macht. In der traditionellen
Kunstauffassung bleibt dieser Prozeß verborgen in der ordnenden, selektiven
Arbeit des Künstlers, der nach einer bestimmten Idee diese Eindrücke zu
einem Werk formt, das nach Struktur und Ablauf diese Idee intellektuell nachvollziehbar
gestaltet. Die dadaistische Aktion, die eine Kunst als Entsprechung zur
Lebensrealität gestalten will, bringt schlichtweg das aus der Alltagswirklichkeit
entnommene Material auf die Bühne, das vor der rationalen Aufbereitung, in
einer weitgehend zufälligen Montage gegeneinander gesetzt wird: »Ihre
Originalität bestand nicht im Erfinden neuer Darstellungsmittel, sondern in der
freien und unabhängigen Montage all dessen, was zur Schaffung eines der
DADA-Intention entsprechenden Ausdrucks dienen konnte.«[71]
Diese revolutionierte Auffassung von Kunst gleicht somit eine ästhetische
Vorstellung nicht dem Leben an, sondern erhebt das Leben selbst zur ästhetik
bzw. zur Kunst. Dadaistische (Anti-)Kunst repräsentiert unter dieser Sichtweise
eine Reflexion über Kunst in der (Anti-)Kunst, im Medium selbst. Es wird nicht
länger ein in sich geschlossenes Kunstwerk als fertiges Produkt dem Publikum
zur Rezeption geliefert, sondern sein Material thematisiert, dessen Herkunft
und die nicht rationalen Kategorien folgende Verarbeitung zu einer neuen ästhetik
des Absurden, Widersprüchlichen und Zufälligen erhoben. Die
Auswirkungen einer solchen Gegen-ästhetik auf das künstlerische System Theater
beschreibt Huelsenbeck:
»Von den vielen Möglichkeiten, unsere Haltung auf
diesen Vortragsabenden zu schildern, kann man nur einige herausgreifen.
Diejenigen, die nicht gewohnt sind, Handlungen als Symbole zu verstehen,
werden nicht aufhören, uns als Wahnsinnige, Verbrecher oder bestenfalls
als ›anmassende Lümmel‹ zu kritisieren. Wenn man aber geneigt ist, dem
›tieferen Sinn‹ unserer Handlungen eine Interpretationsmöglichkeit zu
geben, muß man (vielleicht mit Erstaunen) zugeben, daß es auf unserer
intellektuellen Ebene bisher kaum jemanden gegeben hat, der wie wir
mit großem Geschick und ungewöhnlichem Mut konventionelle Erwartungen
enttäuscht hat.«[72]
Die beim Publikum ausgelöste Verwirrung, die bis zu
handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Dadaisten geführt
hat, liegt in der Konsequenz begründet, in dem mit der Gesamtheit
aller konventionalisierten Erwartungen gebrochen wird. Die auf dem Theater
üblicherweise voneinander getrennten Bereiche der Regie, des Darstellers
und der Textvorlage fallen innerhalb des ›Dada-Theaters‹ unauflöslich
zusammen. Der Dadaist übernimmt gleichzeitig die Funktion des Regisseurs,
des Schauspielers, des (improvisierenden) Dramatikers und führt diese
funktionell unterschiedenen Bereiche auf der Bühne zusammen. Damit verbunden
findet eine Auflösung der Sprache statt, die nicht mehr semantischer Vermittler
von Bedeutung oder einer Handlung ist, sondern – abgelöst von einer
funktionalen Zuordnung – selbst in ihrem Materialwert und klanglichen
Dimension ihren Einsatz im Lautgedicht, Simultangedicht oder bruitistischen
Gedicht findet. Während die Futuristen im Verlauf ihrer Entwicklung auf
professionelle Schauspieler zurückgreifen und das Bühnenbild akzentuieren,
spielt der Dadaist keine Rolle, sondern inszeniert sich und seine spontanen
Einfälle selbst, ohne dabei einer konkreten Zielrichtung zu folgen oder durch
die hervorgerufene Wahrnehmungsstörung beim Zuschauer eine Bewußtseinsbeeinflussung
hervorrufen zu wollen.
Der anti-künstlerische Impuls richtet sich ebenso auf die
Bühne selbst. Der Illusionsraum Bühne, auf der dem Zuschauer in einer fiktiven
Konstruktion eine realitätsnahe Handlung vorspielt wird, soll im traditionellen
Theater den Ein-druck von Wirklichkeit unterstützen. Die technifizierte Bühne
der Futuristen, die auf die Darstellung von Dynamik und Bewegung hin zielt,
revolutioniert die gesamte Vorstellung einer Bühnenarchitektur und abstrahiert sie von dem Diktum der
Simulation von Realität. Sie bleibt aber nach wie vor untrennbar künstlerisches
Element, das den Zuschauer aus seiner Alltagswirklichkeit herauslöst und ihm
einen neuen Anschauungsrahmen gibt. Wenn Dada in der Kunst den unmittelbarsten
Ausdruck des Lebens sucht bzw. das Leben die unmittelbarste Kunst selbst ist,
muß ein solcher Bühnenillusionismus aufgegeben werden. Tatsächlich finden sich
keinerlei Bühnenentwürfe der Dadaisten, was sich wahrscheinlich in ihrer
Auffassung begründet, daß Kunst und Leben untrennbar sind und somit auch der
Theater- und Lebensraum nicht voneinander getrennt werden darf: »Die Dadaisten
brauchen daher im Prinzip kein spezielles Theater mehr; sie hatten längst die
Welt als ihren Theaterschau›spiel‹platz entdeckt.«[73] Wie man an einem
späteren Zeitpunkt der (Anti-)Kunstentwicklung im 20. Jahr-hundert beobachten
kann, ist es wohl diese radikal lebensnahe Forderung, Kunst zu machen,
woran die Happening- und Aktionskunst-Tendenzen anzuknüpfen versuchen.
Der Performance-Charakter, der die dadaistischen
Aktionsabende prägt, wird unterstützt durch das intuitive, improvisierende
Miteinbeziehen einer weiteren Materialität, dessen Thematisierung für die
frühen Theateravantgardisten seit Edward Gordon Craig immer wieder als
Ausgangspunkt der Erneuerung gesehen wird: die Maske bzw. das Kostüm. 1908
entsteht Craigs wichtigstes Theatermanifest Der Schauspieler und die
über-Marionette, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Dadaisten zur
Kenntnis genommen haben. Auch wenn insgesamt gesehen die Zielvorstellung über
eine neue Theaterform zwischen Craig und Dada unterschiedlich ist, lassen sich
anhand einer Beschreibung von Hugo Ball in der konkreten Verwendung von Masken
und Kostüme Anknüpfungspunkte erkennen:
»Wir waren alle zugegen, als Janco mit seinen Masken ankam,
und jeder band sich sogleich eine um. Da geschah etwas Seltsames. Die
Maske verlangte nicht nur sofort nach einem Kostüm, sie diktierte auch einen
ganz bestimmten pathetischen, ja an Irrsinn streifenden Gestus [...] Die Masken
verlangten einfach, daß ihre Träger sich zu einem tragisch-absurden Tanz in
Bewegung setzten.«[74]
Die über die Maske hervorgerufene Reaktion, die Ball hier
beschreibt, entspricht in etwa der Forderung Craigs, wenn er in seinem Manifest
verlangt: »Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird
die unbelebte figur einnehmen – wir nennen sie die über-marionette
[...].«[75]
Craig fordert die Abschaffung des naturimitierenden Schauspielers zugunsten der
über-Marionette unter der Annahme, daß dadurch »ein unechter bühnen-realismus«[76]
verschwinden würde und sich die Verwirrung, die durch die Vermischung
von Kunst und Realität ausgelöst worden ist, auflöst. Die Abstraktion der
Bühnendarstellung vom natürlichen Menschen führt letztlich für Craig, aber
auch für Ball, über die Maske und das Kostüm zu einer neuen intui-tiven Form
der Bewegung und Darstellung auf der Bühne, die einen naturillusionistischen
Ausdruck vernichtet. Das übergreifende Interesse an dieser Art Requisite
begründet Ball in seinem Diarium: »Was an den Masken uns allesamt
fasziniert ist, daß sie nicht menschliche, sondern überlebensgroße
Charaktere und Leidenschaften verkörpern. Das Grauen dieser Zeit, der
paralysierende Hintergrund der Dinge ist sichtbar gemacht.«[77] An den zitierten
Passagen von Ball zeigt sich erneut das Interesse für das Moment der
Improvisation und des Zufalls, der nicht nur für die Aufführungen selbst als
wichtiger Faktor im Vordergrund steht, sondern auch für die Arbeitspraktik
der Dadaisten untereinander charakteristisch ist. Janco gibt mit den von ihm entworfenen Masken den
Auslöser und man entwickelt daraus gemeinsam spontan neue Darstellungsformen,
die dem Publikum später präsentiert werden. Die Funktion der dadaistischen
Masken und Kostüme und den anderen Materialien, die während den
Vorstellungen im Sinne von Abstraktion und Zufälligkeit zur
Verwendung kommen, kann man zurecht folgendermaßen zusammenfassen:
»Masken und Kostüme wurden von den Dadas, genauso wie Laut
und Bewegungen, als zunächst freie und neutrale Arbeitsmaterialien betrachtet,
die nicht zweckgerichtet sind, sondern erst in der unmittelbaren Anwendung
ihre spezifische Bedeutung erhalten.«[78]
Die anti-künstlerische Haltung Dadas, die den traditionellen
Kunstbegriff ablehnt, basiert auf der Vernichtung konventionalisierter
Formen des Kunst-apparats. Der Zuschauer, der an den performativen
Aktionen teilnimmt, wird in seiner Erwartungshaltung ständig verunsichert, da
seine Perzeption in keine vorhersehbare Bahn gelenkt wird, indem die
Inszenierung der Aktionen keinem geordneten Schema folgt. Das Moment der
Irritation, das durch die Vielzahl wechselnder, spontan improvisierter
Eindrücke hervorgerufen wird, bedingt die Auflösung eines geschlossenen
Kunstwerk-Begriffs. In Analogie zur dada-istischen
Wirklichkeitsauffassung, die geprägt ist durch den ständigen Widerspruch,
das Infragestellen rationaler und logischer Kategorien, nach denen sich
Gegenwart in einem ordnenden System beschreiben ließe, basiert die
dadais-tische Performance auf alogischen Strukturen, die intuitiv und zufällig
ihre Elemente hervorbringt und miteinander kombiniert. Der daraus beim
Zuschauer resultierende Eindruck der nicht-künstlerischen Willkürlichkeit, die
sich gegen die traditionelle Vorstellung von Kunst als fertigem,
nachvollziehbarem Produkt einer intellektuellen Aufbereitung richtet, läßt sich
aus heutiger Distanz umbewerten. Die Tatsache, daß außer einigen
Fotodokumenten kaum Textvorlagen oder Bühnenentwürfe der Veranstaltungsabende
überliefert sind, zeugt von der dadaistischen Anti-Haltung gegenüber der
materiellen und musealen Fixierung von Kunst. Im Zentrum der Aktion steht nicht
mehr das Endprodukt, sondern der Prozeß des Entstehens. Unter der dadaistischen
Vorstellung, daß sich Kunst aus wahllos herausgegriffenen Elementen der
Wirklichkeit zusammensetzt und sich wie das Leben selbst ständig neu
konstituieren muß, ist Kunst der flüchtige Ausdruck von Gegenwärtigkeit. Vor
diesem Hintergrund vernichten die Dadaisten die semiotische Bindung der
Sprache an Bedeutung und akzentuieren im Laut- und bruitistischen Gedicht den
sinnlich erfahrbaren Materialcharakter. Sie verneinen die dramatische Handlung,
den Schauspieler, die literarische Textvorlage, jegliche Elemente des
traditionellen Theaters, die darauf abzielen, im illusionistischen Spiel
die Wirklichkeit ordnen und beschreiben zu wollen. Ebenso wie in der
Abstraktionsbewegung innerhalb der Malerei, wird eine beschreibende
Gegenständlichkeit der Darstellung aufgegeben, das heißt, der Darsteller auf
der Bühne wird vom naturnachahmenden Menschen abstrahiert, die Sprache von
ihrer Bedeutung und die Aktion von einer geschlossenen Handlung. Die so entstehende
Performance verändert die gesamte Wahrnehmung des Zuschauers, da sie nicht auf
kognitives Erfassen und Verstehen ausgelegt ist, sondern dem Publikum die
gleichen Perzeptionsmuster abverlangt, die für die Entstehung konstitutiv
sind: emotionales, intuitives und sinnliches Wahrnehmen der Realität.
Ein abschließendes Zitat, das die dadaistische
Kunstauffassung zusammenfaßt, macht den Unterschied der
anti-künstlerischen Perspektive der Dadaisten im Vergleich zum
Futurismus deutlich:
»Die Futuristen versuchten, die Wirklichkeit reflektiert
durch ihre Kunst zu repräsentieren. Die Dadas stellten die Realität ›pur‹ (oder
fast) auf die Bühne. [...] Der Dadaist und seine Kunst standen als Synonym für
die Untrennbarkeit von Kunst und Leben. Alle Bühnenmittel wurden in diesem
Sinne eingesetzt. Sie waren Zitate, Ausschnitte des umgebenden Lebens
und wurden nicht etwa in ihrer symbolischen Zeichenfunktion als Hinweis
benutzt, sondern schlicht als Tatsachen. Im Vordergrund der Dada-Aktion standen
die Ausdrucksmittel als reines Material. Ein Material, das ständig umgeordnet,
zerstört, auseinandermontiert und in überraschender Weise neu
komponiert wurde und das nur im präzisen Moment seines Gebrauchs in genau
dieser Form existierte. Die Dada-Kunst akzeptierte keine festen und
geordneten Beziehungen des Materials untereinander. Jeder Gegenstand,
jedes Wort und jede Handlung war frei, immer wieder neue Verbindungen
einzugehen, die dem Zufall folgten.«[79]
3.1 Performative Kunsttendenzen
3.1.1 Der Performance-Begriff
Im zweiten Kapitel über die historische Avantgarde wurde
versucht, an die historischen Ursprünge von Futurismus und Dada zurüchzugehen
und beide Bewegungen im Vergleich zu den bis dahin konventionalisierten Formen
der traditionellen Kunst abzusetzen. Der gesamte Kunstapparat, die
Kunstgeschichte und -kritik haben schließlich dazu beigetragen, daß
mittlerweile sowohl der Futurismus wie auch Dada im System Kunst
institutionalisiert sind, woraus sich der Anstoß ergab, das originär
anti-künstlerische dieser beiden Bewegungen von den traditionellen Formen der
Kunst abzusetzen.
Der Ausgangspunkt etwas anti-künstlerisch einzustufen, lag
in der radikalen Durchbrechung normativer Kategorien Kunst zu produzieren und
sie als solche identifizieren zu können. Dazu gehört die Ablehnung
traditioneller Formen der Kunst, die dem bürgerlichen Publikum zur Unterhaltung
dienen, genauso wie die weitreichende Veränderung und Erweiterung des gesamten
Systems Kunst und dem Kunstwerk-Begriff. Die Auswirkungen dieser Veränderungen
auf die Institution Kunst und ihren Vermittlungsapparat sind aus heutiger
Distanz gesehen vielfach der Auslöser und Ideengeber für die nachfolgenden
Tendenzen in Richtung neuer anti-künstlerischer Impulse.
Anknüpfungspunkte für den kunsthistorischen Sprung von den
Anfängen der historischen Avantgarde zur Performance-Kunst der 60er Jahre sind
nachweisbare Parallelitäten, die sich zwischen futuristischen,
dadaistischen Aktionen und der Performance-Bewegung auftun. Der Blickwinkel
richtet sich dabei auf den Performance-Begriff und die spezifischen Formen
darstellender Aktionen, an deren Beispiel die Grenze zwischen traditionellem
Theater und bildender Kunst zu verschwimmen beginnt. Heute scheint die bildende
Kunst – weitmehr als die darstellende – größeren Anspruch auf
die neuentstandene Gattung der Performance zu erheben, obwohl eine
eindeutige Zuordnung oft nicht möglich ist. Im Historischen Wörterbuch der
Philosophie findet sich in Bezug auf dieses Problem unter dem Eintrag Performance:
»ist [...] zu einem international üblichen Fachterminus für
eine Disziplin der modernen bildenden Kunst geworden, deren Eigenart darin
liegt, die traditionellen Gattungsgrenzen der bildenden gegenüber der
darstellenden Kunst, dem Tanz, der Musik, und Literatur zu überschreiten.«[80]
Abgesehen von dem Definitionsproblem, Performance dem
Bereich der darstellenden oder bildenden Kunst zuzuordnen, haben sich im
Verlauf der Entwicklung dieser neuen Kunstgattung eine Reihe von Termini
gebildet, die teilweise in ihrer Verwendung den Gegenstandsbereich
einer Untersuchung aktionsorientierter Kunst unscharf erscheinen
lassen. Begriffe wie: Happening, Fluxus, Aktion, Event, Body Art, Live Art,
Aktionskunst, Off-Broadway-Theater etc., werden teils als Gattungs- oder
auch Untergattungsbegriffe verwendet. Zur genaueren Abgrenzung und
übersichtlichkeit sollen die Termini Aktionskunst bzw. Performance als
gattungsbeschreibende Bezeichnungen eingeführt werden. Sie werden die
vielen Ausprägungen einer gestalteten Direktvermittlung von Kunst zusammenfassen,
deren Präsenz als künstlerisches Werk nur in der realen Aufführung gegeben ist,
und eine grundlegende Tendenz beschreiben mit der sich einige Künstler in
den sechziger Jahren neben ihrer parallellaufenden Beschäftigung mit den
tradtionellen Formen von Malerei, Plastik, Theater, Literatur, Musik und Tanz,
auseinandersetzen. Dabei sollen zunächst die beiden Untergattungen Fluxus und Happening
an ausgewählten Aktionen zu einer allgemeineren Charakterisierung
herangezogen werden, um schließlich zu der heftig diskutierten Form des Orgien
Mysterien Theaters des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch zu gelangen.
Als grundlegende These soll anhand der Performance-Kunst
herausgearbeitet werden, wie diese neu entstandene künstlerische Gattung dazu
beigetragen hat, den umfassenden Kunstbegriff zu erweitern und damit verbunden
auf die gesamte Institution Kunst verändernd einzugreifen. Die
ideengebenden Strukturen und aktionistischen Aufführungen der Performance-Bewegung
sollen unter der Fragestellung einer künstlerischen Norm- und Konventionsverletzung,
mit vermeintlichen Urspüngen bei Dada und Futurismus in Zusammenhang
gestellt werden, sofern sich Analogien in dieser kunsthistorischen Reihung
nachweisen lassen.
3.1.2 Fluxus und Happening
Vor allem in Amerika versammelt sich ein Großteil der ins
Exil getriebenen europäischen Künstler und trägt mit den innovativen
Tendenzen der jungen amerikanischen Avantgarde dazu bei, daß die USA zum
internationalen Zentrum neuester Kunsttendenzen avanciert. Am Black Mountain
College beispielsweise setzen sich nach dessen Gründung 1933, bedingt durch die
aus Europa emigrierten Lehrer, zunächst Tendenzen des Surrealismus und des
Bauhaus fort, um aber relativ rasch zu einer großen Freiheit und Offenheit in
der Kunsterziehung gelangen zu können. Hier lehren auch der experimentelle
Komponist John Cage oder Merce Cunningham, die in den fünfziger Jahren
wesentlich zur Entstehung der performativen Kunst beigetragen haben bzw. als
Urheber der ersten Happenings oder Fluxus-Aktionen gelten. Was sich in
Verbindung mit der Fluxus-Bewegung zunächst mit Namen wie: John Cage, Robin
Page und Nam June Paik hauptsächlich an einer gattungsüberschreitenden
Arbeitsweise im Rahmen einer musikalischen Revolution bewegt, die herkömmliche
Konzertveranstaltungen in klanglich abstrakte Geschehnisse umwandelt,
zeigt an der Reaktion der Zuschauer ein ähnlich provozierendes
Rezeptionspotential, das den dadaistischen Soireen schon 40 Jahre zuvor innewohnt.
Cage, »dessen Einfluß sich praktisch in jeder Avantgardebewegung der
letzten vierzig Jahre niedergeschlagen hat«[81], kann als
paradigmatisch für die Arbeitsweise und Entwicklung eines Aktionskünstlers
angesehen werden, der sich als ausgebildeter Komponist ȟber die Grenzen seines
Fachs hinweg – auch in den verschiedensten Kombinationen – mit
Theater, Dichtung, Multimedia, bildender Kunst, Philosophie und Pilzkunde«[82]
beschäftigt hat.
Der zeitgeschichtlicher Hintergrund für solche Aktionen, die
sich gegen konventionalisierter Formen der Kunst wenden, um sich eine neue
Ausdrucksweise zu erarbeiten, ist nicht mehr ein massenvernichtender
Weltkrieg, der für die Dadaisten noch so deutlich das Scheitern von
rationalen Wertkategorien vor Augen führt. Entscheidend ist nun vielmehr die
politische Machtkonstellation und Konsumorientierung, die der
II. Weltkrieg mit dem Kalten Krieg und der Wiederaufbauphase hinterlassen
hat. Nach einer anfänglichen »Atmosphäre der Introvertiertheit in den
Künsten«[83],
wie Edward Lucie-Smith die Situation der Kunst unmittelbar nach dem II.
Weltkrieg beschreibt, erstarkt in den fünfziger und sechziger Jahren ein
Bewußtsein, das sich mit der Pop-Art gegen die Prinzipien des Konsums und einer
vorherrschend abstrakten Kunst wendet. In diesen Umfeld und Klima entsteht
aus der Interaktion verschiedener künstlerischer Disziplinen die
internationale Bewegung der Performance-Kunst, die Anknüpfungspunkte
an ihre geschichtlichen und künstlerischen ›Urväter‹ – der historischen
Avant-garde – deutlich werden läßt.
So besteht die im Berliner Forum Theater aufgeführte Komposition
des kanadischen Komponisten und Fluxus-Künstler Robin Page darin, eine
fabrikneue Gitarre mit den Füßen wie eine Blechdose vor sich her zu treten, die
im Verlauf der Aktion vollständig vernichtet wird. Nur das Instrument an sich,
das Zerbersten des Holzes und das Schnarren und Vibrieren der Seiten
erinnert im weitesten Sinne noch an eine musikalische Darbietung. Im Grunde
wird aber jeder weiterführende Kontext im Sinne von Musik, Konzert oder
Komposition aufgegeben; die Aktion verläßt den angestammten Ort der
künstlerischen Präsentation, indem der Akt der Zerstörung im Theater
beginnt, auf dem Kurfürstendamm fortgesetzt wird, um wieder im Theater zu enden.[84]
Man kann ermessen, wie stark dies mit der konventionellen Erwartungshaltung des
kunstinteressierten Publikums bricht, das mit einer Musikveranstaltung ganz
anderer Art rechnet. Aber nicht allein der Zuschauer wird in der beschriebenen
Art herausgefordert. Indem die Performance den festumschriebenen Rahmen des
Theaters verläßt und die Aktion in die zunächst unbeteiligte öffentlichkeit
bringt, stellt sie eine – wenn auch sehr ungewohnte – Beziehnung
zum alltäglichen Leben und den unweigerlich miteinbezogenen Passanten her.
Performer dieser Fluxus-Aktion ist der griechische
Schriftsteller und Bildhauer Vagelis Tsakiridis, der mit diesem scheinbar
absurden Spiel sein eigentliches Arbeitsgebiet verläßt, indem er sich in
die Rolle des Darstellers begibt. Als Darsteller mimt er aber keine Rolle, die
im Spiel eines klassischen Theaters normalerweise eine fiktive Person enstehen
ließe. Der Darsteller repräsentiert als agierende Person nicht mehr als
seine alltägliche Identität. Er vollzieht den von Page in seiner Komposition
festgelegten Akt, das Instrument zu zerstören, wobei ihm die an der Performance
teilnehmenden Zuschauer auf seinem Weg aus dem Theater auf die Straße
beobachtend begleiten. Nicht allein der ›performende‹ Tsakiridis verläßt
in dieser Aktion seine gewohnte künstlerische Tätigkeit als Literat
oder Bildhauer, indem er sich in eine darstellende Funktion begibt, auch der
Initiator Robin Page definiert mit dieser Komposition seine Rolle als Komponist
völlig neu. Sein Stück dient nicht zur Aufführung eines konventionellen
Konzerts, das von Musikern oder einem Orchester gespielt wird. Als
Fluxus-Künstler entwirft er eine Aktion, die neben der überwindung
musikalischer Normen und Rollenzuweisungen (Komponist, Musiker, Instrument),
das Ziel hat, das Musikinstrument selbst zu vernichten und im Ritus seiner
Zerstörung den wahllos entstehenden Klängen zuzuhören.
Die Fluxus-Bewegung mit ihren Protagonisten überschreitet
den bisher festumschriebenen Rahmen der Musik. Begriffe wie Konzert,
Komposition, Musiker, Publikum und Konzertsaal beginnen sich in der
gattungsüberschreitenden Aktion aufzulösen und sich mit
Elementen des darstellenden Spiels zu vermischen. Die Art von
künstlerischer Direktvermittlung, die John Cage, Nam June Paik, La Monte Young
mit ihren Fluxus-Aktionen betreiben, setzt sich rasch als internationaler
Gedanke in der Umkodierung einer formalisierten ästhetik und öffnung
für andere Kunstgattungen auch in Deutschland mit Joseph Beuys, Bazon Brock und
Wolf Vostell in den sechziger Jahren durch. Gerade Vostell gilt mit den
Amerikanern Alan Kaprow und Claes Oldenburg als Mitinitiator einer zweiten
wichtigen Form der Aktionskunst: des Happenings.
Ein Geschehen, wie sich der in der weiteren Entwicklung der
Aktionskunst-Bewegung oft verwendete Begriff des Happenings direkt übersetzen
läßt, hält sich in Analogie zu Fluxus-Aktionen an keine gattungstypischen
Zuweisungen, sondern synthetisiert Elemente, die aus den Bereichen Malerei,
Plastik, Musik, Tanz, Literatur und Theater entnommen sind, die in
darstellender und handlungsorientierter Form präsentiert werden.
Der Kölner Wolf Vostell kommt wie Kaprow und Oldenburg über
die Malerei zum Happening. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre
– also eigentlich zeitgleich mit Fluxus – präsentieren sie
multimediale Aktionen, die als »später Nachhall Dadas«[85], zum Teil stark an
die Aktionsabende des historischen Vorbilds erinnern.[86] Auch für Edith
Almhofer ist die Parallele zwischen Aktionskunst-Auspägungen der sechziger
Jahre und den provokanten Verfechtern von Futurismus, Dada und
Surrealismus vor dem II. Weltkrieg ein wichtiger Aspekt ihrer Analyse der
künstlerischen und außerkünstlerischen Faktoren von Performances:
»Für die Genese der vielgestalteten Ausprägugnen künstlerischer
Direktvermittlungen waren die historischen europäischen Avantgardebewegungen
von grundlegender Bedeutung. Die provokative ästhetische Produktion
wie die betont gesellschaftskritischen, antikünstlerischen Programme
der Futuristen, Dadaisten und Surrealisten, aber auch die einfallsreichen
Unternehmungen von Einzelgängern wie Duchamp und Schwitters
beeinflußten wesentlich die Entwicklung von Happening, Fluxus-Event,
Aktion, Body-Art, Demonstration und Performance.«[87]
Ob diese Parallele anhand einer erkennbaren
Programmatik und in der Struktur der kombinierten Elemente haltbar ist,
soll an späterer Stelle noch genauer untersucht werden.
Die These von Vostell »Kunst ist Leben – Leben ist
Kunst« verrät in jedem Fall eine gemeinsame geistige Basis, die eine
künstlerische Produktion verfolgt, welche aus dem System der ästhetischen
Isolierung ausbricht und nach einer anderen Funktionalität von Kunst strebt.
Happening und Fluxus als typische Ausprägungen einer künstlerischen
Direktvermittlung, öffnen den abgeschlossenen Raum von Atelier und Museum
und verlegen die Produktion von Kunst und deren Rezeption in den öffentlichen
Raum. Die raum-zeitliche Trennung beider Ebenen, die der musealisierten und
musealisierbaren Kunst zu eigen ist, hebt sich in der Performance auf. Der
Teilnehmer an der Aktion wird zum Betrachter der Entstehung einer neuen Art des
Kunstwerks, indem er vom Anfang bis zum Ende die Genese des immateriellen
Produkts beobachten kann und situiert sich mit dem Performer ohne eine zwischengeschaltete
Trennung im gleichen Raum, wo die Aktion zustandekommt.
Die scheinbare Nähe zum Theater, die man dem Happening
vordergründig unterstellen könnte, insofern dem Zuschauer ein Geschehen,
eine Aktion oder Handlung gezeigt wird, ist durch die Durchbrechung
narrativer Strukturen, dem Fehlen von Schauspielern, Bühne und einer fiktiven
Handlung nicht gegeben. Das erste Happening von Alan Kaprow im Oktober 1959 18
Happening in 6 parts[88]
zeigt die grundlegende Struktur, nach denen das Geschehen dem Zuschauer
vermittelt wird. In drei voneinander durch Folien abgetrennte Räume, werden
jeweils parallel drei der insgesamt 18 ›Situationen‹ gezeigt, die keine inhaltliche
Verbindung untereinander aufweisen. Der Zuschauer, der sich in einem der drei
Räume aufhält, kann jeweils nur das eine Geschehen verfolgen und durch die
transparenten Folien erahnen, was simultan in den anderen Räumen passiert. In
dieser Weise kann das Wahrgenommene der Zuschauer stark voneinander
abweichen. Ein geschlossener, für alle Teilnehmer gleich repräsentativer
Eindruck des Happenings, kommt über die fehlende Kohärenz der Handlungseinheiten
nicht zustande.
Die überschrift zu den von Kaprow entworfenen
Handlungseinheiten lautet: »Something to take place: a happening«[89]
Die von ihm skizzierten Anweisungen zu den einzelnen Teilen dieses Happenings
lesen sich ähnlich den szenischen Entwürfen bzw. Regieanweisungen eines
Theaterstücks. Inhaltlich gibt es aber zwischen den unvermittelt nebeneinander
geschehenden Einheiten keine Verbindung. Kaprow organisiert lediglich
Anweisungen, nach denen die ausführenden Akteure jweils eine Tätigkeit
ausführen (Bemalen von Leinwand, Schreien, ruhig Sitzen oder Rezitieren etc.),
die den Eindruck hervorufen sollen, den er mit »a ritualistic yet nonsensical
feeling«[90]
beschreibt. Das gesamte Material, das zur künstlerischen Produktion in den
verschieden Gattungen zur Herstellung eines Kusntwerks benutzt werden kann
(darstellendes Spiel, Sprache, Malerei, Plastik, Videosequenzen, Musik etc.),
kommt in diesem Happening zur Verwendung, aber ohne den Eindruck einer
Geschlossenheit der Handlung oder Vermittlung eines Inhalts erzeugen zu wollen.
Bestimmend ist der Eindruck von simultan ablaufenden Geschehnissen, die
Simultanität in anderer Weise thematisieren als bei den Futuristen oder
Dadaisten, weil die einzelnen Einheiten und Handlungen nicht über ihre
alltägliche Funktion hinaus verweisen. Ein dadaistisches Simultangedicht,
das aus Fragmenten kanonisierter Lyrik, Lauten und Geräuschen montiert ist,
trägt mehr Bedeutung in sich, als die reine Handlung einer Textrezitation neben
anderem zu zeigen.
Zum Vergleich ein anderes Happening, das von Wolf Vostell,
Bazon Brock, Joseph Beuys, Nam June Paik, Charlotte Mooreman und anderen in der
Galerie Parnasse von Wolf Jehrling in Wuppertal veranstaltet wird. Der Galerist
hat den Happenisten seine Ausstellungsräume für ein 24-Stunden-Happening zur
Verfügung gestellt. Bazon Brock beschreibt die Geschehnisse folgendermaßen:
»Es war das Thema gestellt, einen Zeitabschnitt von 24
Stunden durch Geschehnisse zu gestalten. Im Gegensatz zu den anderen
Künstlern des Tages war ich bemüht durch ein Minimum an Bewegung ein
Maximum an Ausdrücklichkeit zu erreichen.«[91]
Zur Untermalung dieses Anspruchs verbrachte Brock die meiste
Zeit des Happenings liegend auf einem Tisch. Er selbst begann die Veranstaltung
mit einem Kopfstand, der in Anlehnung an eine These von Hegel zeigen soll, daß
Philosophie die Welt auf dem Kopf ist. Der Maler Wolf Vostell, der mit dem
zuvor erwähnten Alan Kaprow als Initiator der Happening-Bewegung gilt und in
New York seine ersten ›Geschehnisse‹ durchführt[92], steckt Nadeln in
rohes Fleisch, das er auf dem Boden der Galerie verteilt hat oder schließt sich
im weiteren Verlauf der Veranstaltung mit einer Gasmaske vor dem Gesicht in
einen Glasschrank ein. Am Ende der Veranstaltung resümiert er die
Aktionen als »24 Stunden – Folgen des Notstands«[93], eine ziemlich
deutliche Anspielung auf die »Notstandsgesetze« und die damit verbundene
Repressionspolitik der damaligen Regierung gegenüber non-konformen politischen
Tendenzen in den ausgehenden sechziger Jahren. Indem er versucht, als
Maler und Performer die Wirklichkeit in seine Kunst zu integrieren, sieht
er die Verbindung zwischen der in der bildenden Kunst aktuellen Richtung der
Pop Art im Vergleich zum Happening: »Pop Art sind eingefrorene Happenings und
Happenings sind zu Leben gemachte Pop Art.«[94] Die anderen
beteiligten Künstler, z. B. Joseph Beuys, der eine Art meditatives Yoga
betreibt, indem er auf einer Kiste sitzend seine Bauchmuskeln an- und
entspannt und einen Klumpen Margarine als Kopfkissen benutzt, steuern
weitere Aktionen dem Happening bei, deren Sinn dem Publikum scheinbar
verborgen bleibt. Ein New Yorker Zuschauer ergreift schließlich die Eigeninitiative
und beginnt – zum Erstaunen der anderen Zuschauer – auf einem Stück
von Vostells verwendetem Fleisch zu kauen. Vostells These »Kunst ist Leben,
Leben ist Kunst« nimmt mit dieser spontanen Zuschauerbeteiligung eine
konkrete Form an, die er in einem Interview unter der Fragestellung nach
den Zielen des Happenings noch genauer umreißt: »Mit meinen Happenings möchte
ich das Bewußtsein der Menschen für alle Fakten und Tatsachen des Lebens
schärfen. Sie setzen neue Wertmaßstäbe und geben die Möglichkeit dem Menschen
seine Umwelt, seine Zeit besser zu verstehen.«[95] Der Faktor Zeit
spielt bei diesem und anderen Happenings immer eine wichtige Rolle zur Schulung
und Beeinflussung der Wahrnehmung seiner Zuschauer. So der Beitrag von Thomas
Schmit zu diesem 24-Stunden-Happening, der in der Mitte eines Kreises von
Eimern sitzt und, sobald ein Zuschauer den Raum betritt, mit seiner Aktion
pausiert und dieses (Anti-)Geschehen beschreibt: »Eine 24-Stunden-Aktion
kann kaum so aussehen, daß sie dem Publikum etwas bietet. Meine rechnet damit,
daß sie mir etwas bietet: Erholung.«[96] Diese Anspielung
auf den unterhaltenden Charakter der konventionellen Kunst, den schon die
Futuristen und Dadaisten zum Anlaß ihrer anti-künstlerischen Kritik nehmen,
setzt sich in der gleichen ablehnenden Haltung bei den Happenisten fort. So
charakterisiert Ohff diesen Aspekt des Happenings:
»Gerade hierin unterscheidet sich das Happening definitiv
von allen Kunstformen, denen es – unter anderem – auf Zeitvertreib
ankommt. Zeit soll nicht vertrieben, sie soll – im Gegenteil –
genutzt werden und sei es durch das Bewußtsein ihres quälend langsamen Verstreichens.«[97]
Aus diesem kurzen Abriß der Fluxus- und Happening-Bewegung
werden, auf den gesamten Zweig der neu entstandenen Gattung Performance-Kunst
bezogen, einige Elemente deutlich, die zur allgemeinen
Charakterisierung beitragen können und in nachfolgende Kunstrichtungen in
einzelnen Aspekten wieder aufgegriffen werden. Bevor nun eine spezifische
Ausprägung der Aktionskunst am Beispiel von Hermann Nitschs Orgien Mysterien
Theater intensiver diskutiert werden soll, müssen zunächst einige grundlegende
Spezifika der Performance mit ähnlichen Ausprägungen innerhalb der historischen
Avantgarde verglichen werden. Denn mit der Performance-Kunst in ihrer
intermedialen Arbeitsweise hat sich international ein erweiterter Kunstbegriff
durchgesetzt, der schließlich dazu geführt hat, daß die vorausgegangenen
anti-künstlerischen Ansätze institutionalisiert worden sind und neben
konventionellen Formen als Kunst im System Kunst ihren Platz gefunden
haben.
»In diesem Prozeß einer radikalen Neudefinition und
Restauration sollte im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts auch jenen ursprünglich
als antikünstlerisch empfundenen Formen provokativer, ideologisch
motivierter Aktionen zunehmend Kunstcharakter attestiert werden.«[98]
Denn auch wenn Heinz Ohff mit der Fluxus & Happening-
Retrospektivausstellung 1970/71 in Düsseldorf »diesen Zweig der
Anti-Kunst für erloschen«[99]
hält, ist diese Bewegung schon allein durch das wissenschaftliche und kunsthistorische
Interesse, das seinen und andere Texte zu einer genaueren Betrachtung
motiviert hat, zum akzeptierten Teil der Institution Kunst geworden. Die
erkennbaren Nachwirkungen und Einflüsse der Bewegung auf das Kunstsystem sollen
unter Einbeziehung von Futurismus und Dadaismus nachfolgend behandelt
werden.
3.1.3 Auswirkungen auf den Kunstbegriff
Aus der Beschreibung der Fluxus- und Happening-Aktionen läßt
sich unter dem Aspekt einer Erweiterung des Verständnisses, was heute unter dem
Begriff Kunst subsummiert wird, eine grundlegende Veränderung herauslesen. Wenn
Futurismus und Dada die Inhalte und Formalsprache ihrer künstlerischen Produktion
ausweiten und ein sinnliches Erfahren von Kunst dem rational nachvollziehbaren
gegenüberstellen, findet dieser Zugang zur ästhetischen Produktion in
der Performance-Kunst der sechziger Jahre seine erneute Verwendung und
weiterreichende Veränderung. Die Ansätze eines interdisziplinären
Zusammenwirkens ursprünglich getrennter künstlerischer Gattungen,
sind bei den Futuristen und Dada schon nachzuweisen, da während der
Aktionsabende eine Vermischung von Literatur, Musik, bildender und
darstellender Kunst angestrebt wird. So zeigt das dadaistische Lautgedicht
zugunsten einer Betonung von Rhythmus und Klang eine Verschränkung von
Dichtung und Musik, die das Diktum der über sprachliche Zeichen aufgebauten
Bedeutung zurückweist. Die auditive-sinnliche Perzeption tritt vor die kognitiv
intellektuelle Aufnahme und Verarbeitung. Ein Rezeptionsmuster, das typisch für
die Wahrnehmung von Musik ist und lediglich über den an sich
bedeutungsfreien Laut und die Vermittlungsform der Rezitation an Literatur
erinnert. Dieses Ineinanderfließen beider Gattungen findet in der Wiener Gruppe[100]
seine Fortsetzung und unter einem anderen Ausgangspunkt in den Fluxus-Aktionen
eine Parallele. Fluxus entstammt der künstlerischen Herkunft seiner Protagonisten
nach mehr einem musikalischen Kontext und überwindet diese spezifischen
Gattungsgrenzen in Richtung einer darstellenden Performance.
Bei John Cage, Nam June Paik, Robin Page und den anderen
Fluxuskünstlern findet sich der Charakter der Aktion, des Machens,
das Prozeßhafte der künstlerischen Produktion, in deutlicher Anlehnung an
die dadaistischen Aktionsabende im Züricher Cabaret Voltaire, in
den Vordergrund gebracht. Weitaus extensiver angelegt sind die Happenings
(vgl Kap. III.1.2. 18 Happenings in 6 parts von Alan Kaprow) im Nebeneinander
von bildlichen, visuellen, auditiven und darstellenden Elementen, wie sie
analog zur futuristischen Darstellung von Simultanität, ihre Aktionen
intermedial arrangieren. Der Teilnemer an solchen Happenings wird mit
vielfachen sinnlichen und sinnfreien Eindrücken ›überflutet‹, denen er nur
über eine selektive Aufnahme und Verarbeitung begegnen kann.
Der grundlegende Unterschied zum herkömmlichen Kunstwerk,
sei es gegenständlich oder abstrakt, bildnerisch oder plastisch, besteht
in der Möglichkeit des Zuschauers am Prozeß seiner Entstehung beteiligt zu
sein. Der handelnde Künstler ist auf die direkteste Art mit dem Zuschauer,
dem Rezipienten verbunden, der sich mitten im Geschehen bewegen und beobachten
kann, wie der gestalterische Prozeß abläuft. Entzieht sich etwas Dargestelltes
im Rezeptionsprozeß einer konkreten Bedeutung, so kann dies – vor
einer Kategorisierung in gut oder schlecht, Kunst oder Nichtkunst – aus
der Wahrnehmungsschulung der traditionellen Kunst resultieren. Man
betrachtet das ausgestellte, abgeschlossene Werk und versucht über die
kognitive Analyse der verwendeten Zeichen, Symbole und Formen, dem
Gegenstand eine Bedeutung zuzumessen.
Die Analyse der dadaistischen Aktionen hat versucht,
nachzuzeichen, wie eine Gruppe von Künstlern versucht, dieses traditionelle
Kunstverständnis bzw. -rezeptionsschema aufzulösen bzw. umzubewerten.
Die Fluxus-Aktion und das Happening prägen einen Kunstwerk-Begriff, der sich
vom materiellen, abgeschlossenen Charakter löst und an dessen Stelle eine
sinnlich-psychische Bedeutungsdimension setzt. In der Performance-Kunst
liegt für den Betrachter die Chance, der zeitlichen, räumlichen und materiellen
Entstehung von Kunst beizuwohnen, als ob eine private Ateliersituation
zwischen Künstler und Zuschauer gegeben ist, in der man dem Akteur ›über die
Schulter‹ schauen kann. Zunächst unabhängig vom konkreten Inhalt, bedeutet die
Performance also in erster Linie die Visualisierung des üblicherweiser
verborgenen Akts Kunst herzustellen. Der Entstehungsprozeß selbst, der im
traditionellen, abgeschlossenen Werk verborgen liegt und sich dem
Betrachter normalerweise entzieht, wird zum nicht materiellen, psychischen
Kunstwerk erhoben. Diese neue Repräsentationsform von Kunst führt zu »einer
Ausweitung des Kunstbegriffs bis hinein in neue, seelische Dimensionen«[101]
Die einzelnen Bestandteile eines Happenings veranschaulichen
den im fertigen Kunstwerk verborgenen Aspekt der assoziativen Reaktion des
Künstlers auf sein Material und machen damit seine persönliche kreative
Herangehensweise an Kunst zu einem für den Zuschauer transparenten
Vorgang. Nach dieser These könnte man Happening und Fluxus als kreative Formen
der Selbstreflexion über Kunst im eigenen Medium charakterisieren. Neben
dieser »Entmystifizierung von künstlerischer Kreativität«[102],
die mit der Thematisierung des Prozeßhaften einhergeht, wird –
ähnlich der dadaistischen Montagetechnik von Wirklichkeitsfragmenten
und Marcel Duchamps Ready Mades – Alltägliches in Form von Gegenständen
und Handlungen bestimmendes Thema der künstlerischen Produktion.
Vostell, der der traditionellen Kunst die Möglichkeit
abspricht, die Wirklichkeit verändern zu können und aus diesem Grund mit
seinen Happenings »keine Flucht aus der Wirklichkeit, sondern [eine] Flucht in
die Wirklichkeit«[103]
verfolgt, erklärt mit Aktionen wie Bus Stop (1964) den Alltag zur Kunst.
Ziel dieses ohne Publikum durchgeführten Happenings ist es, während einer zweistündigen
Busfahrt alle Eindrücke, die sich aus der wahrzunehmenden Umwelt ergeben, für
sich möglichst intensiv aufzunehmen. In letzter Konsequenz hat sich
in diesem Happening der künstlerische Gegenstand, das Material aufgelöst
und ist ersetzt durch eine Idee, die die These von Vostell: »Kunst ist Leben,
Leben ist Kunst« in der unmittelbarsten Form einlöst. Diese ›radikalste‹ Ausprägung
der Performance-Kunst in den sechziger Jahren hat nicht nur den materiellen
Gegenstand der Kunst in einen ›geistigen‹ oder konzeptuellen verwandelt
und – im Sinne Duchamps – das Alltägliche zum Kunstwerk erklärt,
sondern auch die Trennung zwischen Kunstproduktion und -rezeption eliminiert.
Nach der konventionellen Begrifflichkeit von Künstler und Rezipient hat sich
mit dieser Aktion beides ineinander aufgelöst. Wirklichkeit wird somit nicht
mehr als Inhalt einer ästhetischen Verarbeitung im Medium der Kunst aufgefaßt,
so wie es die Pop Art mit den alltäglichen Gegenständen der Konsum- und
Unterhaltungwelt zur Sprache bringt. Die Kunst dieses Happenings besteht
darin, die Wahrnehmung so zu schulen, daß die Wirklichkeit in ihren vielschichtigen
Wesensformen als unmittelbare Wirklichkeit erfasst werden kann. Wenn
man Vostell in dieser Weise richtig versteht, bedeutet dieser Gedanke die größtmögliche
Verbindung von Kunst und Leben, die überhaupt denkbar ist und gleichzeitig
den brisantesten Versuch einer Erweiterung des Kunstbegriffs, der in den
sechziger Jahren unternommen worden ist.
Noch einmal zurück zu den allgemeinen Charakteristika des
Happenings, daß sich, wie ein Vergleich zwischen Bus Stop und dem 24-Stunden-Happening
in Darmstadt (vgl. III.1.2.) zeigt, extrem wandelbar präsentieren kann.
Auffällig ist, daß mit dem Happening – neben den Veränderungen, die den
Kunstwerk-Begriff und die Beziehung zwischen Künstler und Publikum betreffen
– der Faktor des Zeitlichen eine erhöhte Bedeutung zugewiesen wird. Ohff
spricht im Zusammmenhang der zeitlichen Ausdehnung mancher Happenings davon,
daß gerade die überdehnung dem Zuschauer bewußt machen soll, daß man mit dieser
Kunsttform die Funktion des ästhetischen Zeitvertreibs der konventionellen
Kunst ablehnt. Die Wahrnehmung des Zuschauers für ein »Bewußtsein ihres quälend
langsamen Verstreichens«[104]
zu sensibilisieren, kann u. a. als bewußter Gegenpol zu der
illusionistischen Inszenierung von Zeit in den traditionellen Ausprägungen
des Theaters und der Literatur gesehen werden, die den zeitlichen Verlauf
manipulieren, um ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit zu
liefern.[105]
Zeit wird aber gleichermaßen in der Erfahrung der Realität als vielfaches
Nebeneinander unzusammenhängender Abläufe verstanden (hier zeigt sich das
direkte Anknüpfen an futuristische und vor allem dadaistische Prinzipien),
indem dies im Happening durch simultan ablaufende Aktionen der Wahrnehmung des
Zuschauers zu vermitteln versucht wird.
Als dritter Aspekt der Thematisierung der Dimension Zeit und
deren Bedeutung für eine Umbewertung in der künstlerischen Verarbeitung,
spielt das raum-zeitliche Zusammenfallen von künstlerischer Produktion und
Rezeption eine zentrale Rolle im Happening. Dem Betrachter wird damit ein sonst
verborgener Aspekt der künstlerischen Tätigkeit eröffnet, die die vermittelnden
Institutionen des Museums, des Theaters, der Lesung etc. ihm vorenthält. Indem
sich der Zuschauer direkt inmitten der Aktionen aufhält und die gesamte
Ausdehnung des Happenings erfährt, bekommt er damit die Möglichkeit einen
Eindruck über die Dauer der Herstellung eines Kunstwerks zu erhalten. Ein Bild
beispielsweise, das im Museum präsentiert wird, vermittelt bestensfalls über
die Datierung einen Eindruck davon, wie lange der Maler daran gearbeitet hat
(und dies nur im Maß von Jahresangaben).
Nach Walter Benjamins, der in seinem Aufsatz über Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit u. a. die
unterschiedlichen Wahrneh-mungsmuster der Masse (Publikum), bezogen auf die
Haltung zur Kunst, am Verhältnis zwischen Malerei und Film untersucht und zu
der These gelangt, daß der Film durch das kollektive Rezipieren »[...] das
fortschrittliche Verhalten [des Zuschauers] dadurch kennzeichnet, daß die Lust
am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit
der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht.«[106], lassen sich mit
dieser These zum Film auch Bezüge zum Happening herstellen. Eine durch
grundlegende Strukturen des neuen Mediums Film (kollektive Massenrezeption,
genießerische aber gleichzeitig kritische Haltung) hervorgerufene
Wahrnehmungsveränderung des Zuschauers, die Benjamin unter
»fortschrittlichem Verhalten« zusammenfaßt, stellt er in Kontrast zu der
gesellschaftlich weniger wirksamen Malerei. Weniger wirksam deshalb, weil
»die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption
darzubieten«[107],
die er als Auslöser für einen kritischen Umgang mit dem Gegenstand
definiert. Diese These unterscheidet die Malerei nicht allein vom Antipoden
Film, sondern auch vom Happening, da eine bereits herausgestellte
Qualität des Happenings darin besteht: »Simultanität des kreativen und
rezeptiven Geschehens«[108],
was bedeutet, daß die Aktionen »nur für diejenigen voll verständlich sein
[können], die tatsächlich daran teil[nehmen].«[109]/[110]
Neben dem zeitlichen Aspekt der Herstellung bzw. dem Prozeß
der Entstehung von Kunst, ist für das Happening eine Selbstreflexion
charakteristisch, Aspekte von Arbeitstechnik, bzw. assoziative,
intellektuelle oder sensuelle Techniken des Künstlers zu zeigen, wie er
mit dem verwendeten Material umgeht, es zu etwas zusammensetzt oder – im
Fall von Vostell und anderen – auch destruiert. Eine qualitative
Verschiebung, die mit der Pop Art und dem Happening eine gesellschaftliche
Bedeutung erst in ihrer ganzen Tragweite erlangt, liegt darin, daß sie Teile,
Fragmente, unbearbeitete Ausschnitte der Wirklichkeit in einer
alltagsuntypischen Nicht-Linearität zusammensetzt. Diese Synthese von Realitätsfragmenten
und Kunst ist nun nicht als originät zu bezeichnen, sondern schon durch die papier
coll�s der Kubisten, der futuristischen und dadaistischen Montagetechnik
etc. eingeleitet. Sie erfüllt vielmehr die These von Benjamin: »Das
reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion
eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.«[111]
Der Unterschied bzw. die Auswirkung der Pop-Kunst und des
Happenings auf die Wahrnehmung des Zuschauers liegt in seiner Massenwirksamkeit,
die sich bereits im Begriff pop(ular) manifestiert. Die Pop-Kunst öffnet ihre
Inhalte einer breitenwirksamen Thematik und Nachvollziehbarkeit, indem sie
Themen und Gegenstände des Alltags (Konsumgüter, Comic Strips, Lebensmittel
etc.) nicht intellektuell aufarbeitet und dadurch verschlüsselt, sondern fast
unvermittelt ins Bild bzw. in Aktion setzt. Sie reproduziert das
Alltägliche.
Als Untergattung der Performance-Kunst hat das Happening
durch das intermediale Ineinanderfließen unterschiedlichster
Kunstgattungen dazu beigetragen, die konventionelle Trennung der Bereiche
bildender und darstellender Kunst aufzuheben. Bedingt durch die Auflösung
narrativer Strukturen, die räumlich ungebundene Aufführung, die Integration des
Zuschauers ins Geschehen und das Fehlen von Schauspielern (im herkömmlichen
Verständnis eine illusionistische Rolle zu spielen), hat sich das
Happening als neue, unabhängige Kunstform vom darstellenden Spiel gelöst.
Rudimentär trägt es, indem die Aktionen in direkter Form vermittelt werden,
Züge, die an Theater erinnern lassen, eine Zuordnung zur darstellenden Kunst
allerdings verwährt. Ebenso verweigert sich eine Zuordnung zur bildenden Kunst,
da – bedingt durch die künstlerische Direktvermittlung – dem
Geschehen nur psychisch ein ›materieller‹ Charakter zugewiesen werden kann. Das
immaterielle Kunstwerk entzieht sich somit der Ausstellbarkeit bzw. seiner
Vermarktung. Dies betrifft in gleicher Weise seine Reproduzierbarkeit. Die
Anordnungen und Handlungsentwürfe der Aktionen lassen sich zwar wiederholen,
durch die Eigendynamik der Interaktion und spontanen Improvisation kann eine
Aufführung nicht in der gleichen Weise wiederholt werden. Die vielschichtigen
äußerungsformen der Performance-Kunst haben letztlich zu einer enormen Erweiterung
des Kunstbegriffs geführt und die Rezeptionshaltung des Zuschauers nachhaltig
beeinflußt. Kunst präsentiert sich damit als direkte bzw. lebensnahe
Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die vom Betrachter einen aktiven
Standpunkt der Rezeption verlangt und ein bewußteres Wahrnehmen der Umwelt und
des im ständigen Wandel begriffenen Lebens hervorrufen soll.
3.2 Orgien Mysterien Theater
»Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs,
Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? [...]
Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das
Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus
überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden
an der überfülle selbst?«[112]
3.2.1 Der Wiener Aktionismus
Udo Kultermann, der die künstlerischen Tendenzen der
sechziger Jahre in seinem Buch Leben und Kunst[113] unter dem Aspekt
einer Funktionalisierung der kreativ schöpferischen Tätigkeit in Bezug auf eine
gesellschaftliche Relevanz hin untersucht, gelangt im Vergleich zwischen
historischer Avantgarde und Aktionen der Happening-/Fluxus-Bewegung zu der
These:
»Arbeiten jedoch die Dadaisten und die Surrealisten mit
den Mitteln des Schocks und des Skandals als Bürgerschreck, d. h. auf eine
mentale Veränderung der Gesellschaft hin, so wirkt der Künstler heute mit
Aktionen, die zum Mittun auffordern, auf den ganzen Menschen mit Körper, Geist
und Sinnen. [...] Der Künstler arbeitet heute nicht mehr von der Gesellschaft
isoliert, sondern sucht Wege, seine Position wieder an sie zu binden. Das
Ziel ist eine Verschmelzung mit ihr, d. h. eine Aufhebung des Standes im
alten Sinne.«[114]
Die von ihm charakterisierte Bindung des Künstlers an sein
Publikum und die damit einhergehende Funktionalisierung der Aktionskunst in den
sechziger Jahren, die in direkter Weise Einfluß auf die sinnliche Wahrnehmung
des Betrachters, Zuschauers bzw. Teilnehmers der Aktion hat, mag im
Vergleich zu futuristischen und dadaistischen Provokationsstrategien durchaus
richtig erscheinen. Das Happening hat mit seinen Handlungseinheiten
zweifellos eine intensivere Bindung zur alltäglichen Lebenswelt des
Betrachters und integriert eher, als in der Provokation die Trennung zwischen
Künstler und Zuschauer aufrecht zu erhalten. Dennoch darf nicht vernachlässigt
werden, daß die historische Avantgarde auf keinen erweiterten Kunstbegriff
aufbauen kann, sondern zunächst die Grundlage erarbeitet, Strukturen und
Wahrnehmungsmuster der konventionalisierten Kunst aufzubrechen und zu
überwinden. Anti-Kunst, die über Institutionalisierung wiederum zu einem
konventionalisierten Teil des Kunstsystems wird, trägt dazu bei, daß der
Kunstbegriff einer ständigen Umbewertung und Erweiterung unterworfen ist.
Damit werden auch futuristische und dadaistische Schock- und
Provokationsstrategien zu einer erwartbaren Vorgehensweise innerhalb der
künstlerischen Produktion, auf die der Rezipient intuitiv und aus seiner
Beobachtungserfahrung heraus sich einstellen kann. Ein reines Zitieren
einer dadaistischen Antihaltung, die eine rationale Wirklichkeitsbeschreibung
im zufälligen, provokatorisch Irrationalen auflöst, wäre in den sechziger
Jahren schnell erschöpft gewesen bzw. unter den veränderten gesellschaftlichen
und politischen Emanzipationsprozessen gar nicht zur Kenntnis genommen worden.
Die gestische Malerei der abstrakten Expressionisten, die mit ihren Bildern
über die physische Bildfläche hinausverweisen möchten und das Prozeßhafte ihrer
Herstellung betonen, müssen in einer überlegung zur performativen Kunst in
gleicher Form miteinbezogen werden, wie die aktionistischen ürsprünge bei den
Futuristen, Dadaisten und Surealisten. Mit den aktionsorientierten Kunstformen
der sechziger Jahre entwickelt sich eine andere Form der künstlerischen
Wirklichkeitsbeschreibung, die eine neue Art von Realismus beschreibt. Allgegenwärtige
Symbole und Zeichen der Wirklichkeit werden im Prozessuellen mitaufgenommen und
in Beziehung zu einer Neubestimmung zwischen Objekt, Kunstwerk, Künstler und
Wirklichkeit gesetzt. Dieser neue Realismus unterscheidet sich deutlich
von bewußt irrationalen Tendenzen der historischen Avantgarde. Bedingt
durch die mittlerweile akzeptierten Erweiterungen des Kunstsystems, die
die historische Avantgarde erarbeitet hat, können neue Ausprägungen
entwickelt werden, die auf die zeitlichen Veränderungen reagieren und in
ähnlicher Weise die Tradition in Frage stellen.
Am Beispiel der Wiener Aktionisten und im Speziellen am Orgien
Mysterien Theater[115]
von Hermann Nitsch wird man zum einen beobachten können, wie die spezifischen
Bedingungen in österreich nach dem II. Weltkrieg zunächst eine Diskontinuität
zu europäischen und vor allem amerikanischen Entwicklungen in der
Kunst deutlich werden lassen, zum anderen, daß die performativen Ausprägungen
der Wiener Aktionisten sich in den sechziger Jahren doch von den Happenings in
Amerika und anderen europäischen Ländern unterscheiden. Die Veranstaltungen der
Wiener Aktionisten beinhalten ein hohes gesellschaftliches Skandalpotential,
das sich wirkungsgeschichtlich von der internationalen Happening-Bewegung
absetzt, da sie weitaus politischer orientiert sind oder – im Fall von
Nitsch – mit einer starken religiösen Symbolik behaftet, die Zuschauer
und die Kritik mit gesellschaftlichen Tabuthemen konfrontieren.
Die Wiener Gruppe und die Wiener Aktionisten repräsentieren
den ersten Anknüpfungspunkt österreichischer Kunst an die amerikanische
und europäische Moderne nach dem II. Weltkrieg. Die Wiener Gruppe um Artmann,
Rühm, Wiener, Bayer und Achleitner beziehen sich auf die frühe Wiener
Moderne (vor allem auf die Sprachkritik Wittgensteins) und befreien die
österreichische Literatur aus ihren selbstauferlegten traditionellen
Bindungen. Mit dem Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Wiener Aktionismus um
Otto Muehl, Hermann Nitsch, Günther Brus und Rudolf Schwarzkogler findet
schließlich auch die bildende Kunst österreichs Anschluß an die vorherrschenden
Tendenzen der modernen Kunst, die sich allerdings vehement und aggressiv gegen
die mangelnde Verarbeitung des Austrofaschismus und eine bis
dato konventionelle österreichische Kunst richtet:
»Die Kritik an der Repräsentation führte zur performativen
Aufladung des Kunstwerks, um hinter die Realitäten zu gelangen. So wie sich
in den Arbeiten der Wiener Gruppe aus dem Umgang und der analytischen Dekonstruktion
von Sprache und Sprachgewohnheiten bereits um 1957 performative Modelle
entwickelten, wird auch im Wiener Aktionismus das Kunstobjekt zum Werkzeug
einer Untersuchung von Repräsentationsmodellen, wobei es gestisch aufgeladen
wird.«[116]
Im Gesamtwerk von Nitsch zeigt sich die angesprochene
gestische Aufladung zunächst an dessen informellen Schüttbildern, mit denen er
Ende der fünfziger Jahre beginnt, die im Duktus des Farbauftrags und der
Thematisierung der Bildfläche Analogien zu den amerikanischen abstrakten
Expressionisten herstellen lassen. In der aktionsorientierten Malerei Nitschs
verläßt die am oberen Bildrand aufgetragene Farbe nach ihrem vertikalen
Auslaufen über die überdimensionierten Leinwände den Bildrahmen und
stellt damit einen imaginären Bezug zum Raum außerhalb der eigentlichen
Bildfläche her. Die Konzentration auf den malerischen Gestus, dessen Ziel
nicht die Herstellung von Zeichen ist, sondern sich als Prozeß selbst zum
Inhalt macht und die Beziehung zwischen dem künstlerischen Subjekt und dem
umgebenden Raum herstellt, stellt das Bild in einen neuen
Repräsentationszusammenhang. Es steht nicht mehr in der Tradition einer
Herstellung von Bedeutung über die narrative Struktur der in ihm verwendeten
Zeichen, als zu entschlüsselnde Bedeutungsträger, sondern als Repräsentant
seiner selbst. Das Bild verweist, indem die Rahmung überschritten wird, auf den
Prozeß seiner Herstellung bzw. auf die Geste des Malvorgangs.
Die überleitung im Schaffen Nitschs von der gestischen
Malerei in Richtung performativer Aktionen, die ihn in einen direkten
Zusammenhang zur Aktionskunst-Bewegung der sechziger Jahre stellt, bildet
eine Performance, die er 1962 mit Otto Muehl realisiert. Er läßt sich mit einem
weißen Hemd bekleidet an ein Kreuz binden und von Muehl mit Blut überschütten.
Diese Aktion markiert für Nitsch den übergang von Malerei zur Aktion, indem das
Bild in seiner Zweidimensionalität verlassen wird. Pinsel und Farbe werden
ersetzt durch reale Materialien, die eine physische Räumlichkeit deutlich
machen. Der Künstler ist in dieser Aktion gleichzeitig ideengebendes Subjekt
und materielles Objekt der Gestaltung. Vernachlässigt man zunächst die
Symbolbedeutung der verwendeten Zeichen, spielt die Umbewertung der
Repräsentationsfunktion des hergestellten Kunstwerks eine zentrale Rolle, um
die so eingeleitete Veränderung des Kunstbegriffs der Wiener Aktionisten
zu klären. An die Stelle des Bilds tritt bei Brus, Muehl und Nitsch die Aktion
als Repräsentant ihrer Kunst. Das aus der Aktion entstehende Kunstwerk verliert
damit seinen physisch materiellen Charakter, sobald der Prozeß seiner
Herstellung abgeschlossen ist. Die Präsenz als Kunst hat die Aktion nur in der Direktvermittlung
und gleichzeitigen Rezeption des Geschehens, sieht man einmal von der
photographischen und filmischen Dokumentation ab, die den repräsentativen
Charakter nur andeutungsweise fixieren kann. Auf dieser Ebene ergibt sich also
eine direkte Verbindung zu den Fluxus- und Happeningaktionen von Kaprow,
Vostell, Oldenburg, Beuys, Paik etc., die in direkter Analogie zu den Wiener
Aktionisten das Prozeßhafte der Aktion akzentuieren. Eine physische
Präsenz des Kunstwerks im traditionellen Sinn verlagert sich auf eine
psychische Dimension, die nur während des Geschehens erfahrbar ist.
Zentral für diese frühe Aktion von Nitsch und überhaupt für
den gesamten Wiener Aktionismus ist der Einbezug des menschlichen Körpers in
die Aktion, der im Kontrast zu den intermedial orientierten Happenings von
Kaprow beispielsweise zentral für die Thematik des Geschehens wird. Das
OMT Nitschs, die Selbstbemalungs- und Selbstverstümmlungsaktionen von
Günther Brus und die Materialaktionen von Otto Muehl stellen den menschlichen
oder tierischen Körper ins Zentrum der Beziehung zwischen Objekt und Aktion.
Als sich Nitsch 1962 in seiner Wohnung von Muehl mit Blut beschütten läßt, hat
sich neben der materiellen Phänomenologie des Kunstwerks damit auch die Distanz
zwischen Künstler und Werk radikal dynamisiert: »Diese dramatisch erlebte Geste
der synästhetischen Vereinigung von Maler und Kunstwerk mit einem von der
Lesbarkeit her umfassenden Symbolgehalt steht am Beginn des Wiener
Aktionismus.«[117]
Das Kunstwerk hat somit in der Aktion seinen konventionellen Objektcharakter
verloren, indem das künstlerische Subjekt sich selbst zum materiellen
Objekt des Geschehens macht.
Im Juni 1968 kommt es in der Wiener Universität im Rahmen
eines als Vortrag über das Thema Kunst und Revolution angekündigten Happenings
zur Interaktion zwischen den sprachkritischen Konzepten der Wiener Gruppe
und den Wiener Aktionisten, die das künstlerische und vor allem das
gesellschaftlich politische Provokationspotential deutlich macht.[118]
Am Verlauf der sprachlichen Beiträge von Wiener, Weibel und Jirak und den
gestischen Aktionen von Brus und Muehl kann man die Differenz ablesen, die sich
durch dieses Happening im Vergleich zu den anderen europäischen und
amerikanischen Aktionskünstlern manifestiert. Die direkte Beleidigung des
damaligen Finanzministers Koren, die Beschimpfung der Kennedy-Familie durch
Muehl und die ›kakophone‹ Aktion von Günther Brus, der die österreichische
Bundeshyme bei der Entleerung seines Darms singt, seinen Körper mit dem Kot einreibt
und auf das Podium onaniert, all diese Aktionen zeigen in der Addition dieser
extrem provokanten moralischen und politischen Normverletzungen, daß die
Vermischung von künstlerischen und politischen Zielen bei den Wiener
Aktionisten sehr viel weiter reicht, als bei anderen Happenisten. In der
schonungslosen Durchbrechung gesellschaftlicher Tabus, offenbart
sich einerseits eine gedankliche Nähe zur antibürgerlichen Haltung
radikalpolitischer Gruppen der '68-Revolte, wie auch ein starker Individualisierungsdrang
der Künstler. Deutlich ist bei den Wiener Aktionisten ein Hang zum
Sadomasochismus vorhanden, der Künstler und Objekt miteinander verschmelzen
läßt, wenn Brus, Muehl, Schwarzkogler und Nitsch ihre eigenen Körper zum
Schauplatz von Selbstverstümmelungen, Kasteiungen und Opferhandlungen machen.
Nitsch kommt dabei innerhalb der Gruppe eine Sonderstellung zu, da die Arbeit
an seinem Orgien Mysterien Theater, die er Anfang der sechziger beginnt,
über den Zerfall und die Umorientierung der Gruppe und ihrer Mitglieder hinaus
bis in die Gegenwart weiterverfolgt.
3.2.2 Aktionsmalerei und Orgien Mysterien Theater
Aus der Beschäftigung mit der spezifischen Form des
Aktionismus, der bei Hermann Nitsch über viele vorausgegangene Einzelaktionen
in teils mehrtägigen Orgien-Mysterien-Spielen mündet, ergeben sich vieldeutige
Fragestellungen, die sich zum Teil nur in Vermutungen beantworten lassen.
Ende der fünfziger Jahre steht Nitsch unter dem Einfluß der
informellen amerikanischen Maler, wie Jackson Pollock, Franz Kline,
Willem de Kooning und Sam Francis, deren gestische Art des Malens in seinen
monumentalen Schüttbildern und im OMT – auch gedanklich – eine
analoge Verarbeitung findet:
»ich begriff sofort, diese maler wollten das gleiche, was
ich durch mein theater wollte. nichts anderes, als sinnlich-erregende
vorgänge wurden direkt zur Anschauung gebracht. nichts mehr wurde dargestellt,
abgebildet. der malvorgang selbst, der sich in der zeit ereignende
produktionsvorgang wurde wesentlich. ein vorgang, der sich in der zeit
ereignete, war eigentlich ein dramatischer vorgang. ich entdeckte die
verbindung zum theater, zu meinem theater. die informelle malerei liess
die sinnlichen vorgänge meines theaters auf einer bildfläche sich ereignen.«[119]
Er beschreibt weiter, daß es ihm auf Grund dieser Erfahrung
möglich war, neben seinen dramaturgisch inszenierten Aktionen mit seiner
Malerei den Schritt zurück in die Fläche zu gehen, woraus seine typischen
Schüttbilder entstehen, deren Entstehungsprozeß er als »grundritual«[120]
seines OMTs charakterisiert:
»es wurde mir noch einmal möglich, grundelemente meines
theaterkonzeptes auf einer fläche vorzuführen. ich wollte zeigen, wie das
verschütten, verspritzen und verschmieren und verplantschen von roter farbflüssigkeit
beim beschauer sinnlich-intensive erregung hervorrufen kann, zu
sinnlich-intensivem empfinden auffordert.«[121]
Die Aktion von1962, als er sich in beschriebener Weise am
Kreuz hängend von Otto Muehl mit Blut beschütten läßt, markiert den Anfangspunkt
einer langen Reihe von Aktionen, die schließlich in dem Entwurf für ein
Sechs-Tage-Abreationsspiel[122]
münden, daß letztlich erst im August 1998 öffentlich aufgeführt werden
kann. über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren, mit ärgsten Anfeindungen
in der öffentlichkeit von Kunstkritikern, Kirche, Presse und Politik hält er an
seiner aktionsorientierten Theaterform fest, die er über diesen Zeitraum stetig
modifiziert. Während Kaprow, Vostell u.a. Happenisten in ihren Aktionen mit
performativen Improvisationen experimentieren, die intermediale Inhalte in
ihrer Wirkung auf die Wahrnehmung des Publikums einsetzen, kreist Nitsch um ein
eingrenzbares symbolisches Vokabular, das in Form von archaischen und
religiösen Riten seine Verwendung findet. Auf den ersten Blick wirken die Einzelaktionen,
in denen er die menschlichen Darsteller mit Opferritualen, Tierkadavern,
Eingeweiden und Blut in direktester Weise konfrontiert, schockierend und
gewaltverherrlichend. ähnlich wie auf seinen überdimensionierten
Leinwänden dominieren auch in den Aktionen große Mengen von verschüttetem
Blut, die in ihrer Symbolik das ästhetische Empfinden des Betrachter
herausfordern.
Den übergang zwischen seiner gestischen Malerei und den
Aktionen in Zusammenhang der Orgien Mysterien Spiele bilden seine
sogenannten Malaktionen, wobei er den Prozeß der Herstellung in einer Art
Handlungsanweisung schriftlich festhält. Analog zu den Regieanweisungen
eines dramatischen Texts, ist die Art und Abfolge des Farbauftrags vorstrukturiert
und dokumentiert so in schriftlicher Form jede Malaktion, die während der
Ausführung von einem Fotographen in Bildsequenzen festgehalten wird:
»alle wände des raumes wurden mit weissem packpapier
bespannt. ich (der akteur) bin mit einem weisem, kuttenartigen hemd
bekleidet. das packpapier wird mit roter farbe bemalt, beschüttet und
bespritzt. ein breiter flacher pinsel wird in rote farbe getaucht und auf das
bild gedrückt und geklatscht, die farbe fliesst abwärts, vom pinsel spritzt
farbe auf die bildfläche. ein schwamm wird abwechselnd in rote farbe, wasser
oder farbwasser getaucht und jeweils an der senkrechten bildfläche
ausgedrückt. die motorik des gesamten körpers, besonders der armbewegungen,
spielt bei der aktionsmalerei eine grosse rolle [...].«[123]
Aus diesen Malaktionen entwickelt Nitsch – nur sehr
viel umfangreicher dokumentiert – einzelne Aktionen, die
im Zusammenhang seiner theatralen Experimente stehen. Zu der
Kreuzigungsaktion, bei der Otto Muehl in Nitschs Wohnung ihn mit Blut
beschüttet, schreibt Nitsch als Resümee:
»diese aktion sollte zeigen, dass die (bisher
unaufgeführten) anweisungen meines theaters realisierbar sind. das
heraustreten aus der bildfläche faszinierte uns; jetzt wurde farbe nicht mehr
auf eine fläche geschüttet und gespritzt. vielmehr wurde eine farbige, flüssige
substanz (eben blut) auf einen lebendigen, sich bewegenden körper geschüttet
[...] zum ersten mal wurde (von mir) ein reales geschehnis inszeniert
[...] das inszenieren wirklicher geschehnisse, das zueinanderinbeziehungsetzen
von wirklichkeitsteilen zu anderen wirklichkeitsteilen war nun das neue
arbeitsfeld.«[124]
Auf dieser Basis entwickelt Nitsch eine Reihe von Einzelaktionen,
die er mit Muehl, Brus, Schwarzkogler und anderen Akteuren durchführt, in
denen die Akteure mit den stetig verwendeten Materialien wie Blut, Innereien,
Spermaflüssigkeit, Eidotter und eine Reihe von farbigen Flüssigkeiten
bedeckt werden. Diese Szenen spielen neben der Symbolik der verwendeten
Materialien in der Regel auf einen bestimmten sexuellen Kontext an, der durch
die Inbeziehungsetzung zwischen Material und Akteur deutlich,
aber nicht eindeutig wird. Es handelt sich allerdings weder um ein
erotisches oder pornographisches Stilisieren des Geschlechtsakts,
noch um eine Luststeigerung durch den scheinbaren Fetischcharakter
der verwendeten Gegenstände. Das Blut, die Tierinnereien und die anderen
Flüssigkeiten werden über den Genitalbereich des Akteurs verteilt, ohne das
eine weitere Handlung oder Reaktion auf seiten des Akteurs hervorgerufen
wird. Er verharrt als ein passiver Teil der Inszenierung zwischen der
Symbolbedeutung des Materials, zu dem er mit seinem Körper einen lebendigen
Teil beisteuert. Andererseits variiert Nitsch in diesen bis zu 18 Stunden
dauernden Einzelaktionen das Thema des Opferrituals, in dem gekreuzigte,
mit dem Kopf nach unten aufgehängte Schafe durch die Akteure über dem Boden
oder Tischen, die mit weißen Tüchern bedeckt sind, ausgeweidet werden. Das hinuntertropfende
Blut und die Organe des Tieres werden dabei entweder in Beziehung zu
anderen Materialien gesetzt, die auf den Tüchern drapiert werden, oder über den
Körper des Akteurs verteilt, der sich liegend unter dem gekreu-zigten Leib des
Tieres befindet. In vielfacher Weise werden solche und ähnliche Aktionen
von Nitsch in Privatwohnungen, in seinem Atelier in Wien, in Galerien oder
beispielsweise bei einem Symposium 1966 unter dem Titel Destruktion in Art in
London realisiert. Anhand von Nitschs eigener Dokumentation einer Aktion, die
am 16. September im St. Bride Institute aufgeführt wird, kann man eine Erweiterung
seines Konzepts in Richtung des Orgien Mysterien Theaters ablesen. Zum einen
finden nun, dem Charakter vieler Happenings entsprechend, mehrere Aktionen simultan
statt, außerdem baut Nitsch im Rahmen der Aktionen erstmalig eine
Filmprojektion als intermediales Teilgeschehen ein. Wichtiger im Zusammenhang
dieser Aufführung – da er den Einsatz moderner Medien in der Folge
wieder verwirft – ist die zusätzliche Verwendung eines Orchesters, daß
die Aktionen mit unterschiedlichsten Formen von Musik und Geräuschen begleitet.
Neben dem Orchester verwendet er einen zehnköpfigen Schreichor, der die Szenen
mit weiteren auditiven Elementen kommentiert.
Aufgrund der zunehmenden Komplexität der einzelnen Szenen
und der neu eingeführten Orchester- und Chorbegleitung, geht Nitsch dazu
über, seine Abreaktionsspiele in einer eigens dafür entwickelten
Partitur zu notieren, da die bisherige Form der Fixierung zu umfangreich
wird. Parallel zu diesen Einzelaktionen oder ihrer szenischen Verkettung
arbeitet Nitsch an seiner monumentalen 6-Tage-Aufführung, das in
Anlehnung an die Schöpfunggeschichte sein Orgien Mysterien Theater in einer Art
wagnerischem Gesamtkunstwerk zur Vollendung bringen soll und 1984 in einer
dreitägigen Aufführung inszeniert wird.
3.2.3 Ritual und Symbolik
Im Sinne der gestellten Thematik, anti-künstlerische
Tendenzen innerhalb des Kunstsystems – vor allem performativer Ansätze
– nachzuverfolgen, eignen sich die Aktionen von Hermann Nitsch in idealer
Weise, die unterschiedlichen Argumentationsansätze gegen und für seine
Arbeit deutlich zu machen. Im Vordergrund der Kritik steht nicht so sehr
die Verletzung von künstlerischen Konventionen, sondern mehr der
moralverletzende Aspekt seiner Aktionen, archaische Opferhandlungen,
Kreuzigungsszenen, Tierschlachtungen etc. zum Thema zu erheben. Trotz der
über vierzig Jahre andauernden Schaffenszeit, scheint die Kategorisierung von
Nitschs Arbeiten in Kunst, Anti-Kunst oder Nicht-Kunst noch nicht abgeschlossen
zu sein, auch wenn seine Schüttbilder in fast allen großen Museen ausgestellt
werden und die Aufführungen des OMTs beständig in der öffentlichen Diskussion
auftauchen. Nitsch kommt schon von daher eine besondere Rolle im Kunstsystem
zu, da er als ehemaliger Teil der Wiener Aktionisten, nach der Auflösung
der Gruppe an seinem Konzept noch bis heute festhält: »Der Wiener
Aktionismus hat mit Hermann Nitsch nur mehr einen einzigen bedeutenden aktiven
Vertreter, nachdem Rudolf Schwarzkogler tot ist, Otto Mühl Patriarch seiner
Großkommune, Adolf Frohner konservativ geworden und Günther Brus malerisch
arbeitet.«[125]
Auch bzw. trotz der Professur[126], die Nitsch 1989
an der Städelschule in Frankfurt nach heftigstem Widerstand von
öffentlichkeit und Politik bekommt, gilt er nach wie vor zu den umstrittensten
Künstlern der Gegenwart. Die Ursachen dafür, daß selbst 1998 die
Uraufführung des 6-Tage-Spiels unter dem Einfluß der FPö letztendlich ohne
öffentliches Publikum stattfinden muß, zeigt, daß sein OMT unter den
verschiedensten Standpunkten (Kirche, Politik, Tierschützer, Künstlerkollegen
etc.) immer noch äußerst kontrovers diskutiert wird und als Kunstaktion allein
noch keinen ›Freibrief‹ besitzt. Abgesehen von der nachvollziehbaren
Kritik, daß Nitsch sein Konzept in zahlreichen Variationen über einen so
langen Zeitraum formal unverändert zur Aufführung bringt, sollen zunächst
lediglich die Bedeutungsursprünge und -zusammenhänge der verwendeten
Zeichen und Rituale untersucht werden und ein Kontext zu der ungewöhnlich
hohen Anzahl an theoretischen und philosophischen Selbstlegitimationen
von Nitschs Seite aus hergestellt werden.
Der zunächst allgemeinste Zugang zur Praxis und Bedeutung
des OMTs liegt in der von Nitsch eng gefaßten Anlehnung seines Theaters an das
Ritual. In einer Untersuchung zur Theorie des Theaters heißt es in der
Einleitung zu Nitschs OMT:
»Nitsch erstrebt eine Remythisierung des Lebens durch
kultische Kunstformen. Um den ritualarmen europäischen Gegenwartsmenschen
kathartische Erlebnismöglichkeiten zurückzugeben, müssen [...] besonders
diejenigen Kulthandlungen wiederbelebt werden, die orgiastisch, grenzüberschreitend
und befreiend wirken.«[127]
In Nitschs Perspektive auf die Funktion des Theaters bzw.
des Dramas wird eine solche Wiederbelebung kultischer Rituale in theatraler
Form einerseits aus einer Anlehnung an die Geschichte des Dramas selbst begründet:
»ursprünglich wurde ausgegangen vom drama, von dem sich mit
dem mythos verbindenden drama. die mythische formel von tod und auferstehung,
die aufbauende, formende kraft der zerstörung als wesentliches
element der unaufhörlich sich ausbreitenden lebendigkeit stellt sich dar durch
die wucht der dramatischen katastrophe.«[128]
Andererseits offenbart diese vitalistische Perspektive,
daß sich Lebendigkeit gerade in der Gegenwärtigkeit von Tod und Zerstörung
intensiviert, eindeutige Bezüge zur Philosophie Nietzsches. Durch die
ekstatische überschreitung gesellschaftlich kodierter Grenzen soll
sich das orgiastische Spiel der ›großen Emotionen‹ noch emphatischer
erleben lassen.
Die Fülle an unterschiedlichsten Bezügen und Rückgriffen,
die Nitsch über Mythologie, Religion, die griechische Tragödie, Nietzsche und
psychoanalytische Theorien Freuds und C. G. Jungs für das OMT
heranzieht und in einer aktionsorientierten, künstlerischen Verarbeitung
miteinander verbindet, machen eine theoretische Untersuchung äußerst komplex.
Aber gerade in der Kopplung mit den Leitideen der Aktionskunst-Bewegung, eine
sinnliche Wahrnehmung der Aktionen beim Zuschauer zu gewährleisten und den
Prozeß der künstlerischen Produktion nachvollziehbar zu
gestalten, sollte das OMT auch ohne einen theoretischen überbau funktionieren.
Ansonsten müßte der Vorwurf einer elitären und wiederum zur künstlerischen
Autonomie drängenden Kunst vertreten werden, die ihren gestellten
Selbstanspruch nicht erfüllen kann – oder eventuell auch gar nicht
erfüllen will.
Aber zunächst zurück zur Bedeutung der verwendeten Rituale,
Zeichen und ihrer Funktion im OMT, die von Nitsch ganz im Sinne einer
freudschen Therapiemethode definiert wird: »es geht darum eine
synthetische bewußt gesteuerte abreaktion möglich zu machen, welche
verdrängungen auflöst, bewußt macht und für immer beseitigt.«[129]
Die Opfer- und Kreuzigungsszenen als spektakulärste Elemente der
szenischen Gestaltung drängen nahezu auf eine Inbeziehungsetzung zum
mythisch religiösen Kontext, dem diese rituellen Handlungen entstammen. Im
OMT repräsentieren sie aber nicht die ursprüngliche Funktion der individuellen
oder kollektiven ›Reinwaschung‹ der Menschen vor einer metaphysischen
Macht, sondern den säkularisierten Dualismus von Leben und Tod, von Zerstörung
und Lebendigkeit erfahrbar zu machen. Seine Vorstellung, diesen Dualismus
im darstellenden Spiel bzw. in einer dramatischen Inszenierung sinnlich
wahrnehmbar zu gestalten, unterscheidet das OMT trotz einer vergleichbaren
Orientierung von der griechischen Tragödie in einem zentralen Punkt. Das
OMT inszeniert nicht die Illusion einer Katastrophe, sondern bezieht ihre Wirkung
auf die menschliche Psyche über die Unmittelbarkeit des realen Geschehens:
»theater ereignet sich nicht mehr auf einer guckkastenbühne,
vor einer passiven zuschauermenge, keine rollen werden mehr gespielt, nicht das
gespielte leben eines erfundenen helden, sondern das sich ereignen des spielteilnehmers
ist spielgeschehen. der spielteilnehmer ist held des spieles, weiter noch
– das sich ereignen der schöpfung ist spielablauf, alles ist
theater.«[130]
Das Spielgeschehen bedeutet – ganz im Sinne der These
von Wolf Vostell zum Happening »Kunst ist Leben, Leben ist Kunst« – einen
Ausschnitt aus der Wirklichkeit, aus der Dramaturgie des Lebens, ohne eine
fiktive Vermittlungsinstanz über Rollen oder Handlungen
zwischenzuschalten, die an der Wirklichkeit orientiert konstruiert
sind. Die Verarbeitung der Wirklichkeit, die bei Dada sich im Fragmentarischen,
Irrationalen manifestiert und bei den Happenisten in ein Nach- und
Nebeneinander von Wirklichkeitsausschnitten übergeht, findet bei Nitsch
wiederum in anderer Weise statt. Als übergreifendes Thema seiner Szenen
werden reale Handlungen gezeigt, die das Gegensatzpaar von Leben und Tod zum
Inhalt haben. Jegliche lebendige Form des Daseins ist dieser Dualität unterworfen
und nur in der bewußten Auseinandersetzung bzw. dem direkten Nebeneinander
beider Aspekte kann eine Freude an der Existenz möglich werden. Im Grunde
eine religös geprägte Weltsicht, die unabhängig von einer konkreten Weltreligion
einen Seinszustand beschreibt, den Sigmund Freud in einem Briefwechsel mit
Romain Roland in Das Unbehagen in der Kultur als »ozeanisches Gefühl«[131]
wiedergibt. Freud selbst kann dieses Gefühl bei sich zwar nicht beobachten,
beschäftigt sich aber im Folgenden intensiver mit dem, was Roland als »die
Quelle der religiösen Energie«[132]
in seinem Brief beschreibt. Nitsch, der Freuds Theorien (unter anderem
auch diesen späten, essayistischen Text) intensiv rezipiert, betont an einigen
Stellen seiner theoretischen Schriften den eigenen Bezug zur Religion, bzw.
Religiosität, der im Zusammenhang dieser metaphysischen Religionserfahrung
steht und wichtig für gedankliche Umsetzung im OMTs ist. Das Opfern
von Schafen, deren Leben und Körper während des Spiels in ritueller Weise
ausgelöscht werden, erinnern stark an archaisch religiöse Rituale, die
ihren ursprünglichen Sinn in den aufgeklärten christlichen Religionen
verloren haben:
»Es geht im Grunde um den Austausch von Leben u. Macht: die
rituelle Zerstörung von Leben, um dem Gotte (damit auch dem Ordnungszusammenhang
des Kosmos) Leben u. Kraft zuzuführen, um sich gleichzeitig auf diese Weise
selbst bei Leben u. Kraft zu erhalten.«[133]
Weiter heißt es: »Die O.-handlung setzt nicht unbedingt ein
übersinnliches Wesen als Empfänger des O.s voraus, sie kann dank der ihr
innewohnenden "Macht" automatisch des Bezweckte bewirken [...].«[134]
An diesem Beispiel – die anderen symbolischen Handlungen und Gegenstände
würden dies unterstützen – wird deutlich, daß das Thematisieren von
Wirklichkeit im OMT in unvermittelter Weise stattfindet. Das
Töten von Tieren wird nicht symbolisch sondern real inszeniert, was
letztlich für die vehemente Kritik an Nitsch Aktionen verantwortlich ist. Die
Durchführung im rituellen Kontext bezieht sich dabei auf die nicht rational
begründbare Funktion des Rituals, Leben und Kraft freizusetzen, wie
dies im ursprünglichen Sinn angelegt war. Bei den Handlungen besteht
dabei immer ein direkter Bezug zu der umfassenden Thematik der existentiellen
Erfahrung mit dem Gegensatzpaar von Zerstörung und Auferstehung als Quelle
alles Seins. Dieser Bezug auf vorzivilisatorische, archaische Reflexionen
über das Nebeneinander von Leben und Tod, wird im nitschschen »Abreaktionsspiel«
bis in den Exzess, ins Orgiastische gesteigert, um die angestrebte
Reinigung von unterbewußten, verdrängten Triebkräften, z. B. der menschlichen
Jagdlust und Wolust zu Töten zu erreichen. Nitsch bezieht sich dabei auf den
Dionysos Mythos, der eine Steigerung des sinnlichen Empfindens über den Rausch
und den Exzess bis zur Ekstase propagiert: »durch die einengungen der
zivilisation verhinderte vitalität wird zur existenzwut, die sich in sinnlich
intensives erfassen, in die ekstase, bis in den exzess stösst, sich umstülpt
und in der lebenssubstanz wühlt.«[135]
Die bisher diskutierten performativen Ansätze zielen auf
eine Sensibilisierung der Wahrnehmung, die eine intensivierte
Aufnahme und Verarbeitung der Wirklichkeit ermöglicht. In der Gestaltung
der Aktionen werden alltägliche Handlungen fragmentarisch miteinander
verbunden, die in der Dekontextualisierung vom Betrachter bewußter wahrgenommen
werden können. Das OMT zeigt rituelle Handlungen, die ursprünglichen
Lebenszusammenhängen entsprechen und aus dem Bewußtsein moderner
Kulturen verschwunden sind. Der Kreislauf von Leben und Tod, des Tötens
von Leben, um sich zu ernähren. Richard Schechner verweist in seiner
Untersuchung Theateranthropologie auf den grundlegenden Unterschied
zwischen archaischen Kulturen und der modernen Gesellschaft hin, der dafür
verantwortlich ist, daß das Ritual aus den industrialisierten Kulturen
verschwunden ist:
»Industrialisierte Kulturen stellen Reihen von ‹einstimmigen›
Aktionen/Ereignissen bereit, während gemeinschaftsbezogene Kulturen
vielschichtigere Ereignisse anbieten und als integrative Kraft
bereitstellen. [...] Nur über einen langen Zeitraum und durch eine Synthese,
die jeder für sich selbst finden muß, kann ein Sinn für Ganzheit und
Unversehrtheit entwickelt werden.«[136]
Diese Form der gesellschaftlichen Fragmentarisierung
versucht Nitsch mit seinem regressiven Konzept in eine gesamtheitliche Form der
Seinserfahrung zurückzuführen, die sich an den von Schechner
beschriebenen gemeinschaftsbezogenen Kulturen orientiert.
Der rituelle, orgiastische Charakter des OMTs bezieht seine
Wirkung allerdings nicht allein aus dem gewaltsam herbeigeführten Tod der
Opfertiere und dem Beschütten der Akteure mit deren Blut und Innereien.
Die Inszenierung bezieht ihre Wirkung vielmehr aus der Gesamtheit der zur
Verwendung kommenden Mittel. Dazu zählt die Musik, die Geräusche, das
dionysische Feiern, die Meditation, das Singen und schließlich die symbolische
Vertreibung des König ödipus. In Sinne Nitschs soll das OMT nicht die Zerstörung
oder Vernichtung idealisieren, sondern im Spiel zwischen positiven und
negativen Energien schließlich einen festlichen Charakter annehmen:
»so ist eines meiner wesentlichsten anliegen das drama mit
der tatsache des festes zu verbinden. das drama wird sich zum fest steigern.
[...] das leben selbst ist die kunst. kunst ist lebensintensivierung,
ist verwandelung des lebens in den herrlich festlichen ablauf.«[137]
Die ekstatischen Bereiche des Opferrituals und der
rauschhaften Feste werden dabei durch Musik und die Geräuschuntermalung der
Schreichöre und Trillerpfeifen zusätzlich zu intensivieren versucht.
Zusammengenommen bilden die angesprochenen Elemente des
religiösen Rituals, der orgiastischen überschreitung gesellschaftlich und
moralisch definierter Grenzbereiche, der exzessiv erfahrene Rausch und
auch der noch nicht angesprochene Aspekt der zeitlichen Ausdehnung des
Spiels, die Basis für die Reinigung von verdrängten niederen Trieben des
Menschen. Seiner These nach kann eine wahre Erfahrung der eigenen Existenz im
Zusammenahng des höheren Ganzen nur noch im nachgelebten und dramaturgisch
inszenierten Exzess stattfinden, indem das OMT für ihn »eine Kunst als
religionsgleiche Auseinandersetzung mit der Existenz« bedeutet.[138]
Der Aspekt der Affektreinigung, den das OMT bei den Akteuren und dem
Zuschauer bewirken soll und in der Tradition des aristotelischen
Katharsis-Begriffs steht, wird im Nachfolgenden noch genauer zu
betrachten sein.
3.2.4 Katharsis und Abreaktion
Zum griechischen Begriff der Katharsis zunächst einige
einleitende Bemerkungen, die für eine Verwendung im Zusammenhang der
therapeutischen Wirkung der Orgien Mysterien Spiele geklärt werden müssen.
Zum einen scheint aus dem häufig hergestellten Zusammenhang zur Poetik des
Aristoteles der Bedeutungsursprung des Begriffs in Vergessenheit
geraten zu sein. Vor Aristoteles gebrauchen die hippokratischen ärzte
der Antike den Begriff im medizinischen somatischen Sinne
bezogen auf die Heilung von körperlichen Leiden. Die heutige Psychologie
dagegen versteht unter Katharsis eine Befreiung von psychisch bedingten
Spannungen im Unterbewußtsein. Bezogen auf die Verwendung im
literaturwissenschaftlichen Kontext macht Veronika Burckard darauf aufmerksam,
daß die Bedeutung von »[...] Katharsis besonders bei Lessing eher moralischen
als therapeutischen Charakter angenommen hat.«[139] Schon in der
über-setzung aus dem etymologischen Ursprung zeigt sich ein Problem, wie ›Reinigung‹
im Kontext von menschlichen Affekten verstanden werden muß. Eine reinigende
Wirkung erzielt die Tragödie im aristotelischen Sinn letztlich durch die
Erregung von Furcht (phobos) und Mitleid (eleos), welche Aristoteles als Affekte
(pathemata) bezeichnet. Semantisch gesehen ergibt sich das Problem, ob er eine
Reinigung der Affekte gemeint hat oder eine Reinigung von Affekten. Anhand
einer Abhandlung von Jakob Bernay zur aristotelischen Theorie des Dramas soll
der Katharsis-Begriff bei Aristoteles im Sinn der psychologischen Verwendung
des Wortes verstanden werden und die Abreaktion eines Affektstaus
bezeichnen, die über die Dramaturgie der Tragödie erreicht wird.[140]
Um nach diesem stark verkürzten Abriß der differierenden
Verwendung des Begriffs Katharsis auf die spezifische Bedeutung im OMT zu
kommen, soll ein kurzer Ausschnitt aus einem Kommentar zu Nitschs Theorie des
OMT zitiert werden:
»Einen therapeutischen Anspruch erhebt sein Theater
insofern, als Nitsch das Freisetzen von verdrängten Neurosen beabsichtigt;
allerdings geht es ihm um die ›kollektivneurose [der] gesamten menschheit‹,
mit anderen Worten: weniger um eine heilende als um eine Heilwirkung.«[141]
Nitsch selbst drückt dies zunächst weniger emphatisch aus,
wenn er als Ziel der inszenierten Aktionen eine »reinigung von unseren im
unbewußten gespeicherten und eingeengten unbewältigten energien«[142]
zu erreichen sucht. Der Unterschied zur griechischen Tragödie liegt
darin, daß das OMT dies nicht über die illusionistisch konstruierte Katastrophe
zu erreichen sucht, sondern in der direkten Konfrontation mit realem
Geschehen. Das OMT verzichtet vollkommen auf Sprache und die Konstruktion
eines geschlossenen Handlungsablaufs. Die einzelnen Sequenzen erzählen
über das Handeln der Akteure keine Geschichte, sondern beziehen sich in
unmittelbarer Weise auf die sinnliche Wahrnehmung des Ausführenden und den
Betrachter, da sich ein tatsächliches Geschehen in der Wirklichkeit aller
ereignet. In diesen Sinn repräsentieren die gezeigten Handlungen zunächst
keine symbolischen oder metaphorischen Geschehnisse, sondern beziehen
ihren Wirkungsgehalt aus sich heraus. Die Intensität der Wirkung
erwächst damit nicht aus der möglichst perfekten Illusionsbildung, sondern aus
dem Realitätsgehalt des Geschehens, was den Unterschied zur
konventionellen dramatischen Inszenierung unterstreicht. Innerhalb der
griechischen Tragödie muß das gezeigte Spiel im Spannungsaufbau der Handlung
und Rollen einer strengen Gesetzmäßigkeit folgen, um schließlich die von
Aristoteles zugrundegelegte Theorie der Affektentladung im Sinne
einer kathartischen Wirkung erreichen zu können. In der direkt
vermittelten Aktion werden die Affekte unmittelbar angesprochen, indem der
Akteur ein reales Geschehen mit realem ›Material‹ durchführt. Unter dem Aspekt
der direkten Vermittlung von Geschehen und Realität entspricht das OMT den
übrigen aktionsorientierten Kunsttendenzen, die in ihrer Reflexion auf die
Wirklichkeit eine neue Art Realismus hervorbringen:
»Da die Lebensqualität wie gesagt immer mehr in den
Mittelpunkt der zeitgenössischen Kultur gerückt ist, haben sich die
Akzente von einer vom Leben abgesonderten Kunst auf eine immer mehr auf das
Leben selbst konzentrierte Gestaltung verlagert. Bei diesem Vorgang
sind Grundsymbole und Grundkonstanten des Menschlichen wieder
aufgetaucht, verborgene, vergessene oder verschüttete Urerfahrungen,
die die elementare Existenz des Menschen bestimmen.«[143]
Mit diesen Grundsymbolen und Grundkonstanten arbeitet das
OMT, indem es das elementare Thema der menschlichen Existenz, nämlich Leben und
Tod, Schöpfung und Vernichtung ins Zentrum der künstlerischen
Auseinandersetzung stellt. Das kathartische Moment des Aktionstheaters liegt
nicht im Nachempfinden einer individuellen Katastrophe, die dem Helden
einer griechischen Tragödie widerfährt und auf den Zuschauer befreiend wirkt,
weil er – nicht unmittelbar selbst betroffen – im wörtlichen Sinn
›mitleiden‹ kann. Die reinigende Wirkung, die Nitsch intendiert, liegt auf
einer viel allgemeineren, sinnlich erfahrbaren Ebene, indem gesellschaftlich
tabuisierte Bereiche der Existenz ausgelebt und nachempfunden werden können. Er
geht dabei von einem kulturunabhängigen Schöpfungsbegriff aus, nach dem
ein Dualismus in der Welt existiert, der mit dem Erschaffen von Leben und
den damit verbundenen positiven Aspekten des Seins gleichzeitig Vernichtung,
Leid und Schmerz beinhaltet. Letzterer Aspekt des Seins, also das intensive
Ausleben von Vernichtung, Grausamkeit, Tötung, ist seiner Meinung nach über
zivilisatorische Prozeße ins Unterbewußtsein der Menschen verdrängt worden,
dort aber weiter als »eingeengte kraft«[144] existent. Diese
eingeengte Kraft will er in den Bahnen der Kunst, also formal begrenzt, aus dem
Unterbewußtsein befreien, »damit ein die menschheit vermutlich seit frühesten
zeiten belastender, sowohl die einzelpsyche als auch die massenpsyche
betreffender krankheitsherd ans licht gekehrt, angestochen und beseitigt.«[145]
werden kann.
Die über den Zeitraum von mittlerweile fast vierzig Jahren
entworfenen Aktionen, welche er sorgfältig dokumentiert und in ihrer
Wirkung analysiert, behandeln das Thema der Verdrängung emotionaler
Bereiche der menschlichen Psyche in das Unterbewußtsein. Vergleichbar mit den
psychoanalytischen Theorien Freuds über Neurosenbildung durch
Verdrängungsprozeße, rechnet Nitsch ebenfalls mit der Möglichkeit eine
Affektentladung über die ekstatische Abreaktion zu ereichen: »reine
abreaktion, die in den bahnen der ästhetik, der form, verläuft, wird zum
drama und führt zur ästhetisch anschaubar- und bewußtmachung von durch
abreaktionsaktionen aktivierten verdrängten bereichen.«[146]
Gegenüber einem möglichen Widerspruch, den Begriff ästhetik im Zusammenhang
der exzessiv-ekstatischen Aktionen zu gebrauchen, sei angemerkt, daß hier
ästhetik in einem sehr speziellen Sinn gefaßt wird. Nitsch versteht im Zusammenhang
der künstlerischen Arbeit ästhetik als die spezifische Her-ausbildung
einer Formsprache, die die gestalterische Tätigkeit organisiert und regelt. Die
vorausgegangenen Einzelaktionen entsprechen damit gestalterischen Versuchen,
ein ästhetisches Gerüst zu bilden, das die Kombination der Einzelaktionen
im OMT nie in blutrünstige und beliebige Zerstörungsakte umkippen läßt. Zu
diesem Zweck erprobt er unter Zuhilfenahme eines ritualisierten Ablaufs der einzelnen
Handlungen ein präzises Schema, das von ihm unter dem Begriff ›ästhetik‹
gefaßt wird. An anderer Stelle betont er nochmals, das erst die Form, die
regelnde ästhetik, jene befreiende Wirkung erzielen kann, die den Unterschied
zur ungeregelt enthemmten Zerstörungslust deutlich macht: »die zur kunst gewordene
abreaktion organisiert, übersteigert mit den mitteln des theaters alles
lockende und bisher verbotene, welches neutralisiert wird, da es sich innerhalb
des formbereiches ereignet.«[147]
Das Theater bzw. die spezifische Form der nitschschen ästhetik soll
die gleiche unterbewußtseinsentladende Funktion übernehmen, wie die
Hypnose dies innerhalb der psychoanalytischen Therapie zu ereichen sucht.
Hypnose ist das elementare Verfahren der Methode von Breuer und Freud, eine
›Affektabfuhr‹ auszulösen. Sie bewirkt eine Erweiterung des Bewußtseins
der Patienten, die somit erst fähig werden, das Verdrängte zu entäußern
bzw. ins Bewußtsein zurückzuholen.[148] Diese Entäußerung
des Verdrängten endläd sich im Sprachlichen, während das OMT die
Verdrängungsneurose sinnlich-direkt freisetzt – so zumindest in
der Theorie. Zudem bildet die Abreaktion an sich noch nicht den Endpunkt
und die eigentliche Reinigung im kathartischen oder therapeutischen Sinn:
»alles reizt zu höchster Empfindung, die
registrationssteigerung wird zu äußerster ekstatischer erregung. die wollust
der abreaktion wird zur destruktion, zur freude am leiden, zur qual. (der endpunkt
der abreaktion der grundexzeß wird erreicht).«[149]
Darin liegt nach Nitsch das eigentlich Künstlerische seiner
Aktionen. Mit den Mitteln der Kunst bzw. der dramaturgischen Gestaltung
strukturiert er die Handlungsanordnungen, die sich bis zum absolut
exzessiven, ekstatischen Ausleben steigern, den verdrängten Trieb
freisetzen. Der verdrängte Wunsch des Menschen nach Exzess, nach
rauschhaftem überschwang darf über die zivilisatorisch
abgesteckten Grenzen hinaus ausgelebt werden. Im künstlich herbeigeführten
übergewicht der emotional sinnlichen Seite des Menschen gegenüber dem rationalen
Gegenpol, wird für Nitsch das Ziel der Aktionen erreicht. Für ihn bekommt der
Mensch nur in dieser Art die Möglichkeit zur ganzheitlichen Seinserfahrung:
»die einengung des affektiven wird gelockert, die menschheitsentwicklung
wird zurückgedreht, das exzessive gelangt zu seinem recht, die wurzel aller
abreaktion wird be-rührt.«[150],
oder zum Schluß der Betrachtung: »es zeigt sich, daß dieser erlaubte
ausgangsweg sofort für das menschliche wesentlich wird und alle im unbewußten
verdrängt und unbewältigt liegenden energien anzieht, nach außen reißt und
bewußt macht.«[151]
Damit seien in Bezug auf die griechische Tragödie, deren kathartische Wirkung und die therapeutische Verwendung des Kathartischen in der Psychoanalyse einige Unterschiede und Erweiterungen angesprochen, die Nitsch in seinem Konzept zu einer neuen Form synthetisiert. Allerdings basiert die Analyse hauptsächlich auf den theoretischen Schriften und den von Nitsch beschriebenen Wirkungen, die die Aktionen ausgelöst haben und weniger auf einer Kritik der Theorie im Zusammenhang der Aufführungspraxis, die die Erfahrungen der Darsteller und des Publikums in den Vordergrund stellt. Aus diesem Grund sollen nachfolgend einige Fragen aufgeworfen werden, die auf diesen Aspekt einzugehen versuchen.
3.2.5 Synthese
ähnlich den Anthropometrien von Yves Klein, den sexuell
anspielungsreichen Aktionen von Carolee Schneemann oder seiner Wiener
Kollegen Otto Muehl und Günther Brus, beinhaltet auch das OMT von Hermann
Nitsch die Tendenz, den menschlichen Körper als künstlerisches Material zu
verwenden. Als übergeordnete Intention wird von den Künstler
eine sinnlich emotionale Beeinflußung der Rezipienten verfolgt, die sich gegen
das Diktat rationaler Vermittlung wendet. Dies bedingt eine künstlerische
Ausdrucksweise, die eine sensuelle Authentizität anstrebt und dem
Zuschauer, Betrachter oder Akteur ein intuitive, sinnlich gesteuerte Rezeption
abverlangt. Die Form der Vermittlung bezieht sich nicht auf intellektuelle
Kognition, komplexe Zeichensysteme entschlüsseln zu können, sondern
mehr auf eine alltägliche Form der Wahrnehmung. Das Empfinden des
Zuschauers ist im traditionellen Theater auf die Verarbeitung von zwei
Sinneseindrücken reduziert. Er hört die gesprochen Worte und sieht die gespielten
Gesten der Darsteller. Das Fühlen, das Berühren und das Riechen spielen für den
Verlauf des Stückes und die angestrebte Wirkung keine Rolle. Zugunsten des
komplexen Systems Sprache, das Bedeutung nur intellektuell entschlüsselbar
macht, werden die anderen möglichen Sinneserfahrungen ausgespart
und auf ein rein kognitives Nachempfinden reduziert. Diese synästhetische
Distanz zum wirklichen Leben und Erleben des Zuschauers wird auf der Bühne
zusätzlich durch die räumliche Trennung zwischen Spiel und Zuschauerraum
gestützt; dem Beobachter wird ein fester Platz zugewiesen, von dem aus er in
völliger Passivität das Geschehen verfolgt.
Wie bisher zu beobachten war, zielen die unterschiedlichen
Konzepte der historischen Avantgarde und der aktionsorientierten
Bewegungen in den sechziger Jahren auf den Abbau der Distanz zwischen
Kunstwerk und Betrachter bzw. auf Kunstformen, die einen direkteren,
sinnlich intensivierten Eindruck beim Betrachter auszulösen vermögen.
Udo Kultermann bezeichnet diese Umorientierung und Neudefinition
der Funktion von Kunst im Zusammenhang ihrer gesellschaftlichen
Einbindung mit der »Reaktivierung des eigenschöpferischen Handelns, ja der
individuellen Verantwortung«[152].
Bei Dada und den Futuristen bedeutet diese »Reaktivierung« zunächst die
Aufhebung des Unterhaltungsdiktums der bürgerlichen Kunst. Eine kontemplative
Rezeption wird über die Fragmentarisierung des Kunstwerks und
alogische Strukturen verneint. Die Aktivierung des Zuschauers bleibt
hier zunächst noch auf den bewußt provozierten Protest oder das
Nichtverständnis beschränkt, womit eine passiv kontemplative Kunstrezeption
zwar ausgeschaltet wird, die Distanz zwischen Publikum und Künstler
erfährt damit jedoch keine grundlegende änderung.
Diese Relation zwischen Künstler und Publikum und einer
funktional differenzierten Trennung in einen aktiven und
passiven Teil, erfährt in den sechziger Jahren eine grundlegende Erweiterung im
Vergleich zu den futuristischen und dadaistischen Provokationsstrategien:
»[...] so wirkt der Künstler heute [1970] mit Aktionen, die zum Mittun
auffordern, auf den ganzen Menschen mit Körper, Geist und Sinnen.«[153]
Die Wahrnehmungsschulung über die künstlerische Direktvermittlung
erweitert die Perspektive des Betrachters auf das Dargestellte, indem er
nicht allein zum Nachdenken gebracht wird, sondern zunächst zum Nach- und
Mitleben herausgefordert ist. Es wird eine umfassende Form der Wahrnehmung
angestrebt, die mehr auf der menschlichen Körperlichkeit beruht, als auf einer
kognitiven Ebene von Sprache oder Symbolbedeutung.
Aktionskunst zielt auf eine sinnliche Aktivierung des
Zuschauers, der zum Handeln bzw. zum Miterleben aufgefordert ist. Nitsch
unterscheidet in seinen Aktionen zwischen den Begriffen Akteur und Spielteilnehmer,
die in den Orgien Mysterien Spielen eine Schnittstelle zwischen Schauspieler
und Zuschauer des traditionellen Theaters bilden. Der Akteur spielt keine
Rolle, die auf einer erlern-ten Kunstfertigkeit zur Imitation beruht, sondern
ist aufgrund seiner Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am Geschehen in die
Regeln und Hintergründe eingeweiht. Entsprechend der Partitur, den
Handlungsanweisungen des OMTs, ist der Akteur aktiver Teil der Aktion, der
entweder Handlungen ausführt oder seinen Körper für Aktionen zur Verfügung
stellt: »der prozess der selbstwerdung des spielteilnehmers ist das
spielgeschehen.«[154]
An dieser Stelle beginnt seine Unterscheidung unscharf zu werden, da sich
die funktionalen Zuschreibungen bezogen auf Spielteilnehmer
und Akteur vermischen. Der Begriff des Spielteilnehmers wird bei ihm
normalerweise für den passiveren, zuschauenden Part der Aktion
verwendet. über die Funktion und Mitwirkung des Zuschauers schreibt er:
»der zuschauer wurde zum spielteilnehmer. der spielteilnehmer hatte
handlungen durchzuführen, war in das spielgeschehen einbezogen.«[155],
während er dies wenig später wiederum zurücknimmt:
»der spielteilnehmer ist meist sowohl theoretisch als
auch praktisch zu wenig informiert über die art seiner mitwirkung. aus diesem
grund habe ich die äusserliche mitwirkung der spielteilnehmer bei meinen
bisherigen aktionen immer auf das notwendigste reduziert.«[156]
Der eigentliche Sinn einer Unterscheidung in Akteure und
Spielteilnehmer liegt in der therapeutischen Funktion, die das OMT
über die Kombination der orgiastischen und exzesshaften Handlungen, der
Musik und Geräusche, den meditativen Phasen und den Essens- und
Trinkgelagen zu erreichen sucht. Primäres Ziel der bereits beschriebenen
kathartischen Wirkung ist nicht der durchführende Akteur selbst, sondern
der in möglichst allen Sinnen angesprochene Zuschauer bzw. Spielteilnehmer:
»der spielteilnehmer erlebt (er lebt) ein fest, alle sinne werden beansprucht:
er riecht, er isst, trinkt, hört, tastet, fühlt, sieht. er tut dies, was er
täglich tut. aber er erlebt alles verdichtet, konzentriert, intensiver
[...].«[157]
ähnlich den Happenings bekommt der Spielteilnehmer im OMT keinen festen Ort
oder Platz zugewiesen, von dem aus er das Geschehen verfolgen muß. Die zum
Teil parallel ablaufenden Aktionen verlangen vom Betrachtenden geradezu in
räumlicher und sinnlicher Mobilität zu bleiben, da sich jeder den individuell
günstigsten Standort selbst auswählen muß, was und von welchem Ort aus er
die Geschehnisse betrachten möchte. Nitsch selbst ist neben den ausgelösten
Emotionen an diesen Bewegungsvorgängen der Spielteilnehmer interessiert,
wie sie sich durch die Menge drängeln, um sich ein besseres Blickfeld zu
verschaffen oder auseinanderlaufen, wenn ein mit Blut und Innereien beschütteter
Akteur vom Ort des Geschehens weggetragen wird.
Das 6-Tage-Spiel als monumentale Endform des OMTs verlangt
in Zusammenhang der angestrebten therapeutischen Wirkung vom
Spielteilnehmer eine noch anders gelagerte Qualität der Wahrnehmung. Was Nitsch
in den vielen Einzelaktionen als Erarbeitung einer »Grammatik«[158]
ansieht, wie er Mensch, Tier und Ritual in einer Form- und Symbolsprache
miteinander in Beziehung setzt, wird in der Aufführung streckenweise
überspannend lange wiederholt. Immer wieder werden die Motive der Kreuzigung,
des Opferns und der Beschüttungsrituale in nahezu identischer
Weise variiert, so daß sich die Betrachtenden mit einer Art schockierender
Monotonie konfrontiert sehen, die das Thema der Zerstörung anhaltend kühl
und rituell wiederholt. Eine Teilnehmerin am 1984 durchgeführten 3-Tage-Spiel
beschreibt diesen Zustand kurz vor dem Ende des dritten Tags:
»Alles ist Tod und Verklärung, Opfer und Blut, Scheitern,
kein Gelingen. Keine Fruchtbarkeit, keine Geburt, nicht Vegetatives. Verwirrt
betrachtet man Gänse, die Blut schlürfen. Kein Hochgefühl unter den Zuschauern.
Verinselung. Abblocken. Irritation.«[159]
Schließlich löst sich der Eindruck des Fatalen, der unausweichlichen
Vernichtung, die der inszenierte Ablauf aufgebaut hat, in ekstatischen
Szenen, in denen die überreste der Rituale zertrammelt, getreten und überall
verteilt am Boden liegen bleiben. Anschließend wird der symbolisierte König
ödipus vom Spielort vertrieben, womit das Spiel endet. Die Autorin des Berichts
resumiert die gemachten Erfahrungen:
»Doch am folgenden Tag stellt sich heraus, daß weit mehr
gelaufen ist, als die fünf Sinne bewußt wahrnehmen konnten. Daß auf der Ebene
des Unbewußten bei einer ganzen Reihe von Zusehern Entscheidendes
geschehen ist [...]. Die Offenheit für neue Lernpro-zesse gestärkt, der
wertfreie Erfahrungsraum erweitert. Das Gefühl bleibt, bereichert worden
zu sein, auch und gerade bei denen, die zunächst angeekelt und fertig den
Schauplatz verlassen hatten.«[160]
Zugegeben – diese subjektive Erfahrungschilderung läßt
sich zu einer rationalen Bewertung der Aktionen nicht heranziehen. Es
zeigt sich allerdings, wie Nitsch über seine Dramaturgie eine Art
Spannungsbogen aufbaut, der neben den klischeehaften Vorurteilen gegenüber
seinem OMT, einen bestimmten Einfluß auf die Wahrnehmung und die Psyche des
Zuschauers erreicht. Die kurzen und kürzesten Einzelaktionen, die auf die
Realisierung im Gesamtkonzept des 6-Tage-Spiels angelegt sind, werfen das
Problem auf, daß sie die von Nitsch angestrebte Wirkung nur
unzureichend erfüllen können. Zunächst betont er, daß diese kleineren Aktionen
ihm zur Erarbeitung seines Vokabulars dienen, woraus sich die mehrtägige Aufführung
und schließlich das ›Gesamtkunstwerk‹ über sechs Tage zusammensetzt.
Betrachtet man sie isoliert gerät man zum zentralen Punkt, den auch Nitsch für
problematisch hält:
»so scheinen vielleicht gewisse dramatisch exzessive momente
in den kleineren aktionen allzu krass, während sie erst im 6-tage-spiel ihr
richtiges gewicht erhalten und ins verhältnis gesetzt werden. überhaupt die
meditativen momente, die bereiche des festes der ekstatisch seinstrunkenen
daseinsfreude, das schwelgerische breit ausladender musi-kalischer
architektur kommt bei meinen kleineren akionen nicht so recht zur Geltung.«[161]
Im Grunde genommen ist Nitsch Dialektiker, der seine
künstlerische Position nicht aus der Durchbrechung der konventionalisierten
Kunst gewinnt, sondern gesamtkulturelle Entwicklungen in seine Arbeit
miteinbezieht. Die herausge-stellten Bezüge zu archaischen Ritualen, zur
Religionsgeschichte und Mythologien, zur griechischen Tragödie, zu
psychoanalytischen Theorien und Praktiken, die umfangreiche Auseinandersetzung
mit Philosophie und Kunst, zeigen in seinen Arbeiten eine Reflexion auf die
verwertbaren Elemente, die in ihrem Für und Wider abgewägt werden Er inszeniert
einen dramatischen Spannungsaufbau, der sich auf einen Punkt hin
entlädt, ohne gespielte Rollen, Sprache oder eine Handlung zu verwenden. Die
Kreuzigungs- und Opferrituale sind nicht einer metaphysischen Macht zugedacht,
sondern symbolisieren ihre ursprüngliche Bedeutung des Nebeneinander von
Zerstörung und Schöpfung, von Tod als Teil des Lebens. Ebenso verhält es sich
mit dem Exzessiven und Orgiasti-schen, das nicht als Existenzflucht,
sondern im Sinne einer ganzheitlichen Existenzerfahrung
verwendet wird, zu der die überschreitung von zivilisatorisch festgelegten
Grenzen gehört. Aber entgegen dem Vorwurf der Barbarei läuft alles in
vorstrukturierten Bahnen ab, im geplanten Wechsel zwischen Exzess und
Meditation, zwischen Lärm und Musik, zwischen Vernichtung und Leben, das eine
triebgesteuerte Verselbstständigung verhindert. In diesem Sinn liegt das OMT
näher am Bereich der Aktionskunst als am Theater. Das Geschehen wird in
einzelnen, nicht an eine geschlossene Erzählung gebundene Handlungseinheiten
direkt vermittelt. über seine kognitiven Fähigkeiten hinaus, wird der Betrachter
(bzw. Spielteilnehmer) auf einer sensuellen Ebene angesprochen, die neben der
geistigen Aktivität auch die körperliche, sinnliche Wahrnehmung aktiviert. Der
Zuschauer sieht und nimmt reale Geschehnisse wahr, die an ebenfalls nicht
illusionistischen Orten durchgeführt werden. Dabei ist es das Ziel, den
Betrachter nicht aus seiner Wirklichkeit herauszureißen, sondern ihn in den
gezeigten Handlungen sinnlich intensiviert an die umgebende Wirklichkeit zu
binden. Allerdings entspricht das Gezeigte bei Nitsch in anderer Form dem Alltäglichen,
da die verwendete Symbolik und der rituelle Charakter der Handlungen aus
dem Bewußtsein der heutigen Gesellschaft nehezu verschwunden sind. Das Thema
von Lebens- und Existenzfreude, die sich aus der gleichzeitigen
Erfahrung mit Tod und Vernichtung intensiviert, ist über die medial gesteuerte
Desensibilisierung bzw. Distanzierung in wirkungsloses Mitleid umgeschlagen.
Eine Art von Mitleid, das eine körperliche und sinnliche Anteilnahme verhindert
und die tatsächliche Bedeutung verschleiert. Die Aktionen von Nitsch stellen
direkte unvermittelte Fragen an den modernen Menschen, die an jenen Ursprung
zurückgehen, von dem sich die Zivilisation mühsam befreit hat:
»[...] Grundsymbole und Grundkonstanten des Menschlichen
[sind] wieder aufgetaucht, verborgene, vergessene oder verschüttete Urerfahrungen,
die die elementare Existenz des Menschen bestimmen. [...] Die das
Dasein bestimmenden entscheidenden Vorgänge sind daher von der Geburt über
die Liebesvereinigung bis zum Tod bevorzugtes Thema der Künstler
geworden.«[162]
Vielleicht liegt hierin der eigentliche Ursprung für den Wiederspruch an Nitschs Aktionen und die Vorwürfe bis hin zum Satanismus, daß er ein in anderen Gesellschaften offener behandeltes Thema in seiner Kunst verarbeitet.
4.1 Christoph Schlingensief
»Schlingensief aber benötigt das überschreiten dieser
Grenzen«[163]
4.1.1 Vom Film über Theater zur Aktion
Es existieren Gemeinsamkeiten zwischen den Aktionen von
Hermann Nitsch, die auf die Ursprünge der menschlichen Psyche über orgiastische
Feste, die rituelle Zerstückelung von Tieren und das kollektive Feiern der
menschlichen Existenz zurückgehen und dies in direkter unvermittelter
Weise präsentieren, mit den Filmen, Theaterstücken und Aktionen des deutschen
Künstlers Christoph Schlingensief. Auch er zerstückelt, um sich und die
Menschen von etwas zu befreien. Nur ist sein Hintergrund kein
therapeutischer, analytischer oder rationaler. Zerstückelt bzw.
dekonstruiert werden künstlerische, mediale oder politische Inszenierungen.
Diese Dekonstruktion ist gleichbedeutend mit einer Verweigerung,
geschlossene, in sich schlüssige Zusammenhänge zu gestalten, die in
ihrer unterhaltenden und beruhigenden Wirkung typisch für die bürgerliche Kunst
sind. Ebenso wie die Aktionen des OMTs eine verstörende Wirkung in der Wahrnehmung
des Betrachters auslösen, da man an die verdrängten Triebbereiche und
Neurosen des eigenen Menschseins erinnert wird, hinterlassen die
Inszenierungen von Christoph Schlingensief in Film, Theater und Performances
eine eher verunsicherten Perzeptionseindruck beim Rezipienten und der öffentlichen
Kritik. Im Kontrast zu Nitsch liegt das Ursächliche dieser Wirkung weniger
darin begründet, daß Schlingensief in seinen verschiedenen Beschäftigungsfeldern
das elementare Nebeneinander von Leben und Tod, Lebendigkeit und
Zerstörung in archaische Bilder übersetzt, um den Menschen von verdrängten
Neurosen zu befreien. Die verstörende Wirkung liegt in der direkten Abbildung
einer Wirklichkeit, die nicht erklärt oder versöhnlich gestaltet wird, bzw. in
der Wiedergabe von zerstückelten Eindrücken und Abgründen einer ganz und
gar nicht harmonisch funktionierenden Welt. Der Unterschied zu Nitsch
liegt darin, daß Schlingensief nicht auf die Menschheitsgeschichte
zugreift, sondern seine Impulse aus der Gegenwart, der eigenen Erfahrung
mit der Wirklichkeit bezieht, die sich einer Erklärung, Verklärung oder
Verdrängung verweigert. Auf die filmischen Produktionen von Schlingensief
bezogen, resümiert Georg Seeßlen die drastische Vorgehensweise: »Denn
Schlingensief zieht uns mit seinen Bildern nicht aus der Scheiße. Er
reitet uns rein. Und zwar im Galopp. Man kann Schlingensief-Filme nicht sehen
ohne ein ungeordnetes Gefühl der Schuld.«[164]
Schlingensiefs Inszenierungen sind nicht darauf angelegt,
Antworten zu geben, die die Welt in wahr oder falsch, gut oder böse
einteilen. Als Regisseur arbeitet er gegen die Erhabenheit und illusionäre
Schönheit, die der Unterhaltungskunst anhaftet. Die Spielfilme sind
Reflexionen auf Menschen, die sich in ihren Neurosen und alogischen
Verhaltensweisen dem perfekt inszenierten Kintopp entziehen und selten
Erklärungsmuster für ihr Verhalten nach außen tragen. Schlingensief stellt in
seinen Arbeiten permanent Fragen, ohne Angst davor zu haben, ob diese nun
intelligent oder peinlich sind. Fragen, die sich nach ihrer Beantwortung nicht
in ›statisches‹ Wissen auflösen, sondern selbst wieder neue Fragen hervorbringen.
So beginnt seine filmische Auseinandersetzung mit unserer
Realität nicht nach einem Studium an der Filmhochschule in München, sondern in
der naiven kindlichen Eigeninitiative eines Zehnjährigen, der die
Möglichkeiten des Mediums mit einer 8 mm Kamera ausprobiert. Das Machen
steht auch heute noch vor dem Können, was nicht bedeuten soll, daß das
scheinbar Dilettantische auch wirklich von einer Unfähigkeit herrührt.
Vielleicht zeigt es eher einen Erwachsenen, der sich an die Verbote seiner
Kindheit erinnert, an eine gesellschaftlich festgelegte Erziehung in Kategorien
von Richtig oder Falsch, mit der ein ›funktionierendes‹, angepaßtes
Mitglied der Gemeinschaft hervorgebracht werden soll. Die Aktionen, Filme
und Theaterstücke suchen nach Fragen, die richtig oder falsch verschwimmen
lassen, die sich über erlernbare Strategien der Inszenierung
hinwegsetzen, den kindlichen Reiz des Verbotenen ausloten. Im Alter von zehn
Jahren dreht der 1960 in Oberhausen geborene Christoph Schlingensief seine
ersten Kurzfilme auf 8 mm und gründet ein Jahr später das Jugendfilmteam
Oberhausen. Als er 1981 ein Studium der Germanistik, Philosophie und
Kunstgeschichte in München beginnt, sind bis dahin schon insgesamt 11
Eigenproduktionen entstanden. Zunächst hat er sich dort zweimal vergeblich
an der Filmhochschule beworben, arbeitet aber neben dem Studium, das er nach
fünf Semestern wieder abbricht, weiter an Kurzfilmen und als Kamera- und
Regieassistent. 1983 dreht Schlingensief seinen ersten Spielfilm Tunguska
– Die Kisten sind da, für den er 1985 den NordrheinWestfälischen-Produzentenpreis
bekommt. Trotz (oder gerade wegen) der fehlenden akademischen Filmausbildung
bekommt er an der Kunstakademie in Düsseldorf und der Hochschule für
Gestaltung in Offenbach Lehraufträge für Filmtechnik, die er zwischen 1983 und
1986 wahrnimmt.Tunguska ist Teil der Trilogie zur Filmkritik – Film
als Neurose, die den Umgang des Zuschauers mit dem Medium Film thematisiert:
»[...] Schlingensief [entwarf] eine Art Sehsportprogramm,
das die unmündige Position des Zuschauers bewußt machen und auch zu
einem lustvollen, assoziativen Umgang mit dem Medium Film animieren
sollte.«[165]
Das Reflektieren medialer Funktionsprinzipien und ihre
gleichzeitige Infragestellung, ist nicht nur typisch für die filmischen
Arbeiten von Schlingensief. Auch die späteren Theaterstücke und die
8-teilige Talkshow Talk 2000 brechen aus ihren normativen Konventionen aus
und experimentieren mit neuen Formen, die die Inszenierungen der Bereiche
Kunst, Alltag und Politik untersuchen.
Nach mehreren Spielfilmen und seiner kurzen Mitarbeit als
Aufnahmeleiter an der TV-Serie Lindenstraße dreht er 1988 100 Jahre Adolf
Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker. Dies ist der erste Spielfilm
einer Deutschland-Trilogie, zu der 1990 Das Deutsche Kettensägenmassaker
gehört, sowie 1992 die Produktion Terror 2000 – Intensivstation
Deutschland. Alle drei Low-Budget-Filme brechen unter filmtechnischen und
narrativen Aspekten mit der gewohnten Spielfilmästhetik und behandeln
Themen der deutschen Geschichte. In 100 Jahre Adolf Hitler, der an einem
einzigen Tag gedreht wird, beobachtet die Handkamera die letzten 60
Minuten der ›Führerclique‹ um Hitler, Goebbels, Göring und Eva Braun, in
Einstellungen, die lediglich von einer Taschenlampe ausgeleuchtet werden.
In den unterirdischen Gängen des Bunkers ereignen sich alptraumhafte
Szenen, in denen Hitler (vollgepumpt mit Drogen) lethargisch und völlig verwirrt
stirbt und die als Führer verkleidete Eva Braun seine Stelle einnimmt und
die Frau von Goebbels heiratet. ähnlich verwirrend assoziativ erzählt Das
Deutsche Kettensägenmassaker die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
in dem die ökonomisch ›überflüssigen‹ Ossis von den Wessis zu Wurst verarbeitet
werden. Die streckenweise äußerst brutalen und absurd anmutenden Szenen
zeigen Gewalt allerdings nicht als voyeuristischen Selbstzweck, wie dies
die amerikanische Splatterfilm-Vorlage (The Chainsaw Massacre)
präsentiert. Vielmehr wird die inszenierte verklärte Metapher der Wiedervereinigung
›zerstückelt‹, und zurück bleiben Täter und Opfer, die in ihrer Rollenzuschreibung
alles andere als klar oder verständlich wirken: »Die Unordnung, die
Schlingensief anrichtet, möchte auch die Grenzen niederreißen zwischen
dem Leben und der Kunst, dem öffentlichen und dem Privaten, dem Erhabenen und
dem Gewöhnlichen.«[166]
So zerstört Schlingensief das Erhabene der üblichen
Erzählhaltung des Films, das den Zuschauer über die perfekt inszenierte
Handlung, die Bilder und den Ton kontrolliert, ihn mit Geigenmusik romantisch
verklärt oder über den Bösewicht mit der gezogenen Pistole an die
Abgründigkeit der menschlichen Existenz erinnern will. Eine solche
Erzählhaltung sucht man bei Filmen von Schlingensief vergeblich. Nichts ist
dort eindeutig gut oder böse; eine Identifikation mit den gezeigten Charakteren
ist nahezu unmöglich; der Plot ist immer fragmentarisch bzw. zerrissen und
zielt nicht auf ein spannungslösendes Ende oder ein Happy End: »Man begreift
Schlingensief-Filme am ehesten nicht in dem, wo sie hin wollen, was sie
›erreichen‹ könnten, sondern in dem, von dem sie weg wollen, was sie
zerstören.«[167]
So nimmt schließlich auch der letzte Teil der Trilogie Terror
2000 das Gladbecker Geiseldrama nur zum Anlaß, aber nicht als
nachzuerzählende Geschichte. über die pseudo-dokumentarische Rahmung, indem der
Skandalreporter Wolfgang Korruhn die gezeigten Geschehnisse des Films
an- und abmoderiert, wird nicht eine Illusion von Authentizität vermittelt,
sondern vielmehr die Mitleid heischende Inszenierung der
Medienberichterstattung ins Absurde gezogen. Die Kritik diskutiert die Trilogie
äußerst kontrovers. Während Schlingensief 1993 für 100 Jahre Adolf Hitler den
European Photography Preis, 1994 den Singapore Allstar verliehen bekommt,
kommt es im Rahmen einer Vorführung von Terror 2000 zu einem linksradikalen
Anschlag auf ein Berliner Kino, bei dem das gezeigte Filmmaterial mit Säure
zerstört wird. Im Rahmen der Berlinale wird der Film von der Auswahlkommission
abgelehnt.
1993 wird er vom Berliner Volksbühnen Chefdramaturg Matthias
Lilienthal dazu eingeladen, sein erstes Theaterstück zu inszenieren. Das Stück 100
Jahre CDU und ein Jahr später Kühnen '94 – Bring mir den Kopf von Adolf
Hitler! markieren den Ausgangspunkt für Schlingensief, sich auch mit
anderen künstlerischen Vermittlungsformen auseinanderzusetzen, was Seeßlen
retrospektiv als logische Konsequenz sieht: »[...] so ist Schlingensief
ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und distanziert ist,
der, bewußt oder unbewußt, zur direkten Konfrontation, zum Theater und zur
Performance strebt.«[168]
Die beiden Stücke zeigen aber auch, wie Schlingensief sich mühsam von seiner
filmischen Herkunft lösen muß, um seine Gedanken auf das Theater übertragen zu
können. Bei Kühnen '94 scheint dies zunächst noch nicht zu funktionieren,
denn weder Schlingensief, noch die Dramaturgin Barbara Mundel sind mit der
Arbeit zufrieden:
»Am Anfang, sagt Barbara Mundel, habe für Christoph
Schlingensief immer der Kampf mit dem Film, der ihm um so vieles näher
war, im Vordergrund gestanden. Bei den Vorbereitungen habe er dauernd auf
das Theater geschimpft, statt zu proben ständig nur Filme gedreht.«[169]
Das schlingensiefsche Ethos der Gesellschafts- und
Medienkritik mit ihrer ideologiefreien politischen Orientierung hat auf dem
Theater, das eine direkte Bezugnahme zum Publikum ermöglicht, noch nicht seine
eigene Sprache gefunden:
»›100 Jahre CDU‹ wie auch ›Kühnen '94‹ lähmen sich selber,
vor allem weil der Ansprechpartner noch nicht wirklich gefunden ist: das
Publikum. Die vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum ist noch nicht
eingerissen, es wird nur manchmal, fast verschämt, durch ihre Ritzen geguckt.«[170]
Die direktere Vermittlungsform des Theaters ist für
Schlingensief der Auslöser – auch wenn die zwei ersten Produktionen
dies offensichtlich noch nicht erreichen können – das bisher bevorzugte
Medium Film zu verlassen. Zunächst sieht alles danach aus, daß mit Kühnen '94
dieser Versuch gescheitert ist. Dem Unmut von Dramaturgin Mundel, der
beiteiligten professionellen Schauspieler und dem Volksbühnenintendant
Frank Castorf, der das Stück wieder absetzen will, ist es zuzuschreiben, daß
Schlingensief erst zweieinhalb Jahre später wieder ein Stück an der
Volksbühne inszeniert. Im Mai 1996 wird Rocky Dutschke '68 uraufgeführt,
das den politischen und privaten Werdegang des Studentenführers Rudi
Dutschke und der 68er-Generation unidealisiert nachzeichnet, und den
Wendepunkt in der dramaturgischen Arbeit von Christoph Schlingensief bedeutet.
Alle Aufführungen sind ausverkauft; die Mischung aus professionellen Schauspielern,
Laiendarstellern und Behinderten scheint in der showhaften Zitatmontage
und der direkten Einbeziehung der Zuschauer ins Stück, sein eigenes Vokabular
gefunden zu haben. Noch im gleichen Jahr wird er von Castorf und Lilienthal
als fester Hausregisseur an der Berliner Volksbühne unter Vertrag
genommen. Neben dem Theater beschäftigt er sich auch weiterhin mit dem Medium
Film. So wird Ende des Jahres sein bisher aktuellster Spielfilm Die 120 Tage
von Bottrop - Der letzte Neue Deutsche Film fertiggestellt, der in Anlehnung
an Pasolinis Die 120 Tage von Sodom den Neuen Deutschen Film der Faßbinder-ära
in seiner Lethargie dekonstruiert.
Im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks produziert
Schlingensief 1997 aus Rocky Dutschke '68 ein Hörspiel, daß mit dem »Prix
Futura« für das beste europäische Hörspiel ausgezeichnet wird. Noch im gleichen
Jahr inszeniert er Schlacht um Europa I-XLII – Ufokrise '97:
Raumpatrouille Schlingensief, das im Jahrbuch von Theater heute 1997 als bestes
deutschsprachiges Stück ausgezeichnet wird. überhaupt scheint sich in
diesem Jahr der schlingensiefsche Drang zum ›Machen‹, zum
›In-Bewegung-bleiben‹ buchstäblich zu überschlagen. Neben Schlacht um
Europa inszeniert er im Rahmen des Dritten Praterspektakels zum Thema Maschinenmenschen/Wunschmaschine
die Performance Mensch vs. Maschine, am Berliner Ensemble im Juni des Jahres Die
letzten Tage der Rosa Luxemburg, nach einem Fragment von Bertolt Brecht. Im
Rahmen der documenta X gestaltet er Ende August in Kassel die Aktion Mein Filz,
mein Fett, mein Hase – 48 Stunden überleben für Deutschland, bei der er
wegen einer Plakattafel mit der Aufschrift »Tötet Helmut Kohl« von der Polizei
verhaftet wird und zur Musik des siebziger Jahre Hits Staying Alive den Tod der
englischen Prinzessin Diana ins Lächerliche zieht. Im Oktober 1997 schließt
sich die in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg durchgeführte
Aktion Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland an, zu der er eine
geräumte Polizeistation im Bahnhofsmilieu mietet und sieben Tage lang
Straßenkundgebungen mit Obdachlosen und Junkies veranstaltet, Theater spielt
und Suppe verteilt. Immer noch im Jahr 1997 produziert er mit dem Spartensender
Kanal 4 die achtteilige Talkshow Talk 2000, um zu zeigen, daß jeder Mensch ein
Talkmaster werden kann. Die auf RTL, SAT 1 und ORF ausgestrahlte
Sendung, die in der Berliner Volksbühne aufgezeichnet wird, bildet die Synthese
seiner bisherigen Arbeiten zwischen Film, Theater und Performances und
löst eine öffentliche Kontroverse aus. Spätestens ab diesem Zeitraum steht
Christoph Schlingensief in der öffentlichen Diskussion zwischen Morddrohungen,
Lobgesängen und Verunglimpfungen.
Im Frühjahr 1998 gründet Schlingensief die Partei Chance 2000.
Partei der letzten Chance[171],
um sozial isolierte Gruppen – zumeist Behinderte und Arbeitslose
– in den öffentlichen Diskurs zurückzubringen und jedem die Möglichkeit
zu eröffnen, sich selbst zu wählen. Im Zusammenhang der Parteigründung, die als
›antipolitisches‹ Ziel unter anderem angibt: »Das Ansinnen ›Kunst muß politischer
werden‹ wird hiermit zum Parteiprogramm erhoben und mit der parteieigenen
Forderung ›Politik muß kunstvoller werden‹ partnerschaftlich unterstützt.«[172],
kommt es im März zur Uraufführung des Chance 2000 – Wahlkampfzirkus
'98 im Prater, einer Außenstelle der Berliner Volksbühne. Eine Mischung aus
Theater, Zirkus, Variet� und Wahlkampfveranstaltung, das an insgesamt
achtzehn Abenden im dort aufgebauten Zirkuszelt der Familie Sperlich
veranstaltet wird und die konzeptuellen Veränderungen in der dramatischen Arbeitsweise
von Schlingenseif zeigt: »›Rocky Dutschke '68‹ war die Wende vom Theater in der
Verkleidung des Films zum Theater in der Verkleidung der Politik, jetzt wurde es
Politik in der Verkleidung des Theaters.«[173]
Im Rahmen dieser Durchdringung der politischen
Wahlkampfveranstaltung und Werbekampagne mit sozialem und
künstlerischem Hintergrund, bringt er neben diesem »Wahlkampfzirkus« in der
Folgezeit eine Reihe von Aktionen hervor, die eine Differenzierung in
Aktionskunst oder politische Agitation nahezu unmöglich machen. So
ruft Schlingensief mit Chance 2000 Ende Juli zunächst öffentlich, wegen
politischer Restriktionen dann jedoch privat, zu einer Aktion am Wolfgangsee
auf, wo er im österreichischen Feriendomizil des Bundeskanzlers Kohl
mit sechs Millionen Arbeitslosen gemeinsam »baden gehen« will. Ebenso eine
Einkaufsaktion mit Behinderten und Arbeitslosen im Kaufhaus des Westens in
Berlin, die unter dem Motto »Kaufhauskaufstiftung statt Kaufhausbrandstiftung«[174]
in gewaltloser Form auf antikapitalistische Aktionen in den siebziger Jahren
anspielt.
Erinnert man sich an das Zitat von Georg Seeßlen über die
Verständlichkeit der Filme Schlingensiefs: »Man begreift Schlingensief-Filme am
ehesten nicht in dem, wo sie hin wollen, was sie ›erreichen‹ könnten, sondern
in dem, von dem sie weg wollen, was sie zerstören«[175], bedeutet dies
– auf die politische oder vielmehr künstlerische Orientierung der
Partei Chance 2000 übertragen –, daß auch hier für eine Legitimation
nicht die Ziele wichtig sind, sondern zunächst das, wogegen sich gerichtet
wird: Stagnation, Lethargie und Stilstand; für eine Reanimation des Einzelnen,
der zum Machen ermuntert wird und aus dem Prozeß des Machens seine
Orientierung bekommt. Ob dies eine mögliche Form der politischen Organisation
einer Gesellschaft sein kann – und diese Frage wird mit
falschverstandenem Ernst eigentlich zu Unrecht gestellt –, muß an dieser
Stelle nicht beantwortet werden, da es in erster Linie nicht um Politik geht,
sondern um eine Form von Kunst, die in Anlehnung an die beuyssche Synthese
von Kunst und Politik, eine Annäherung beider Bereiche verfolgt. Eine Funktion,
die das System Politik nicht für die Ausübung von Macht instrumentalisiert,
sondern Politik im Rahmen der Kunst für das Aufwerfen und überprüfen von
ideologisch nicht funktionalisierbaren Fragen benutzt.
Dies verweist auf die Entwicklung innerhalb der
künstlerischen Arbeit von Schlingensief, der über das Infragestellen der
medialen Vermittlungsformen von Kunst, wie: Film, Theater, Fernsehen und
Aktion, zu dem übergreifenden Thema nach der gesellschaftlichen
Relevanz von Kunst gelangt. Ob sich dies mit konkreten Arbeiten Schlingensiefs
im Bereich Theater und Aktion deckt, soll im Folgenden an ausgewählten
Beispielen untersucht werden.
4.1.2 Dekonstruktion der Inszenierung I: Theater
Carl Hegemann, Ex-Dramaturg des Berliner Ensembles und seit
der Inszenierung von Rosa Luxemburg enger Mitarbeiter von Schlingensief,
bezeichnet die Theaterstücke und inszenierten Aktionen des gebürtigen Mühlheimers
als »postcaritatives Theater«[176].
Eine Umschreibung für die Funktion der schlingensiefschen Inszenierungen
von alltäglicher Lebenswelt, in denen »das Theater keine Kopie der Realität
[ist], sondern die Realität eine Kopie des Theaters, und zwar eine schlechte«[177].
Sogleich fühlt man sich an das Leitmotiv von Wolf Vostell erinnert: »Kunst
ist Leben, Leben ist Kunst«. Schlingensief nimmt sich der allgegenwärtigen
Inszenierungen des Alltags an und dekonstruiert diese, indem er die
Grenze zwischen Spiel, Inszenierung und Realität verwischt. Denn wenn das Leben
zur Kunst bzw. der Alltag ›künstlerischer‹ inszeniert werden soll, muß
zunächst klar werden, wie und warum die alltäglichen Inszenierungen in den
Medien, Politik und sozialen Räumen auf die Konstruktion einer in sich
geschlossenen Realität aus sind. Schon die vorangegangene filmische Auseinandersetzung
mit konstruierten Realitäten, beinhaltet den Versuch, den Mythos von Geschlossenheit
bzw. einer harmonischen Inszenierung zu vernichten. So ist es dem
Kinopublikum an keiner Stelle möglich, sich mit gezeigten Rollen oder
Verhaltensweisen zu identifizieren. Die Filme vermitteln vielmehr den Eindruck,
daß sich alles – scheinbar ungeordnet und chaotisch – permanent verändert.
»Leben ist Bewegung, ein permanenter Prozeß von Harmonisierung und Disharmonisierung.«[178]
Diese Diskontinuität der alltäglichen Erfahrungen wird in den Filmen und
den Theaterstücken in Szene gesetzt. Das Prinzip besteht nicht darin, alles so
lange zu überlegen, bis sich jeder Teil zu einem harmonischen Ganzen
zusammenfügt und eine Aussage, ein Ziel erkennbar wird. Das grundlegende
Prinzip heißt Handeln, in Bewegung bleiben, wie es es das Leben tagtäglich
vom Menschen verlangt.
Ein weiteres Motiv, das auch in der Inszenierung der
›Kunstpartei‹ Chance 2000 wieder auftaucht, heißt: »Scheitern lernen« oder
»Scheitern als Chance«[179],
sich selbst die Möglichkeit zuzugestehen, Fehler zu machen. Einer auf
Perfektion ausgerichteten Gesellschaft zu zeigen, daß im stetigen Wandel
zwischen Harmonisierung und Disharmonisierung kein perfekter oder abgeschlossener
Endzustand existiert. Denn etwas kann erst dann perfekt sein, wenn keine
Veränderung, keine Modifikation eine neuerliche Verbesserung bewrirken
kann. In einer sich derartig schnell verändernden Gesellschaft ist eine solche
Perfektion eine nicht einlösbare Utopie, denn das ursprünglich Perfekte kann
sich plötzlich als gänzlich unperfekt darstellen. So zeigen sich die Stücke von
Schlingensief als offene, im Wandel begriffene Abläufe einzelner Szenen, die
dem Film einen wichtigen Aspekt voraus haben. Der Film ist nach dem Schnittvorgang
unabänderlich fest, kann während und nach der Aufführung nicht mehr auf
den Zuschauer reagieren und muß somit einen Endzustand erreichen. Eine offene
szenische Gestaltung im Theaterstück kann sich in jeder Aufführung neu konstituieren,
auf die realen Gegebenheiten des Raums, der Zuschauer und Mitspieler reagieren.
Vielleicht ist es die Unmittelbarkeit der ästhetischen Vermittlung anderer
Formen der Inszenierung von Realität die Schlingensief am Theater
interessiert. Vielleicht ist einfach nur der Zufall dafür verantwortlich, daß
die schlingensiefsche Maxime des Machens, des Handelns, auch wenn kein konkretes
Ziel besteht, ihn zum Theater geführt hat. Nach den ersten Versuchen 100 Jahre
CDU und Kühnen '94 scheint sich Schlingensief mit Rocky Dutschke '68 auch in
der dramatischen Inszenierung seine eigene Sprache erarbeitet oder (wie er
es fordert) sie aus dem Machen entwickelt zu haben. Die wörtlich zu nehmende
Bühnen- oder ›Kunstfamilie-Schlingensief‹ stammt zum Teil aus früheren
Spielfilmen, und hat sich durch professionelle Schauspieler, Behinderte und
Laiendarsteller zu einem festen Stamm formiert. Schließlich ist er –
neben Regiearbeit, musikalischer Gestaltung und den von ihm gedrehten oder
zusammengestellten Filmfragmenten – auf der Bühne auch
immer selbst als Moderator, Darsteller, Sänger oder Kommentator in Aktion.
Das Dutschke-Stück zeigt eine eigenständige dramaturgische
Sprache, die über das Zitieren und Verbinden dokumentarischer Elemente,
showhafter Einlagen, Traumsequenzen, Tanzpassagen, dramatisch überspitzter
Monologe, eine einheitliche Form und Erzählweise in Frage stellt. Darüber
hinaus werden aber nicht nur die gezeigten Inhalte, sondern auch Fragen des
Rollenspiels, des theatralen Raums und der konventionellen Inszenierung
demontiert. Für den Zuschauer stellt sich die Frage: Was ist real und was
ist gespielt? Der inszenierte Mythos über Studentenbewegung, RAF, Kommune 1 und
Flower Power wird brüchig, fagmentarisch dekonstruiert. Was im Zusammenhang
einer mythisierten klischeehaften Darstellung der Geschichte über '68
mittlerweile in den verschiedenen Zuschreibungen stigmatisiert ist,
wird aus einer subjektivierten Perspektive neu überlegt bzw.
uminszeniert. Schlingensief extrahiert dabei aus dem Nebeneinander von
Protestbewegung (damals) und ihrer gesellschaftlichen Integration
(heute), die These: »Von den 68ern lernen, heißt auch scheitern lernen«[180].
So beginnt das Stück um den Studentenführer Dutschke und die Auflehnung
gegen die bürgerliche Gesellschaft nicht im Theater, sondern da, wo die
Ursprünge des gesellschaftlichen Widerstands liegen: auf der Straße. Die Zuschauer
stehen auf der Eingangstreppe der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und
werden Teil einer nachgestellten Demonstration, in deren Verlauf sich mit
fingierten Polizisten geprügelt, die Berliner PDS-Zentrale symbolisch gestürmt
(in historischer Parallele zum Springer-Gebäude) und schließlich Rudi Dutschke
erschossen wird. Nach dieser Hommage an die Form des Straßentheaters,
verläßt man nach zirca einer viertel Stunde den Schauplatz auf dem
Rosa-Luxemburg-Platz und zieht in das Theatergebäude. Darsteller und Zuschauer
gehen gemeinsam durch das Theaterfoyer, indem eine stilisierte »Kommune 2«
mit Matratzen und einigen Nackten andeutet ist, und betreten so den
Theatersaal. Gegen den Widerstand von Schlingensief hat der Bühnenbildner
Bert Neumann die Sitzreihen demontieren lassen, so daß die Zuschauer auf
dem Saalboden sitzen müssen. überhaupt ist die ganze räumliche Gestaltung
des Theaterraums durcheinandergebracht. Die sprichwörtliche ›vierte
Wand‹ zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen ist allein durch die
Umfunktionierung des theatralen Raums aufgehoben. Wo normalerweise die
Bestuhlung installiert ist, steht ein Podest mit Campingzelt, daß das
Mutterhaus von Dutschke in Luckenwalde symbolisiert. Gespielt wird im gesamten
Theater, mal auf der eigentlichen Bühne, mal inmitten der Zuschauer oder
am Rednerpult oberhalb des Publikums. So beginnt der zweite Teil des Stücks mit
einer zum Film analog gestalteten Rahmenhandlung, die den folgenden
Szenenablauf einleitet. Dem Zuschauer wird vermittelt, daß es sich um die
Eröffnung einer Ausstellung über Rudi Dutschke im heimatlichen Gymnasium in
Luckenwalde handelt. Mit Lobreden und der überreichung von Blumen wird dem
beteiligten Lehrerkollegium und den Schülern für ihre Mitarbeit gedankt. Daraus
entsteht ein doppelbödiges Spiel, als die gespielte Inszenierung (gemeint
ist die Ausstellungseröffnung) gleichzeitig auch die eigene Inszenierung
des Schlingensief-Ensembles zu feiern scheint. Eine Erzählstruktur oder
Chronologie des Szenenablaufs sucht man vergeblich, denn die
dramaturgische Gestaltung springt in plötzlichen Rück- und Vorblenden zwischen
der Jugend Dutschkes bis zu Szenen, die sich in der Gegenwart abspielen.
Schlingensief fungiert dabei u. a. immer wieder als Kommentator (in
brechtscher Manier), der den Zuschauern das Gespielte noch einmal zusammenfaßt,
um anschließend an einer Schultafel mit dem »Vosko-Punkt« der Chaostheorie
auf die überwindung gesellschaftlichen Stillstands anzuspielen. Dieses
Stilmittel der ›Inszenierung in der Inszenierung‹ wiederholt sich mehrfach
im Stück. Die Darsteller geben mehrfach Anweisungen an die Technik, die Musik
abzufahren oder die Lüftung anzustellen. An anderer Stelle wird der Sinn des
Stücks damit erklärt, daß es nicht um Belehrung gehe, sondern um Lernen an den
gezeigten Bildern. Im Gesamteindruck erscheint das Stück wie ein abendliches
›zapping‹ durch verschiedene Fernsehprogramme. Gezeigt wird die komplette
Bandbreite zwischen Nachrichtensendung, Dokumentar- und Spielfilm,
Unterhaltungsshow, Krimi und Talkshow, womit der formale Rahmen des
konventionellen Theaters gesprengt ist. Mit den intermedialen Elementen
von Musik, Filmeinspielungen und Kommentaren werden diverse Theaterreformkonzepte
von historischen Vorbilder wie Brecht, Piscator, Handke, Hochhuth und Weiss in
einer großen Zitatmontage zur Schau gestellt. Entgegen einigen Kritikern kann
man aber nicht von einer auf Chaos und Provokation angelegten Imitation
des schon Dagewesenen sprechen. Schlingensief zeigt mit den verwendeten
Elementen neben dem kunsthistorischen Querschnitt durch die Entwicklung
des avantgardistischen und politischen Theaters, auch gerade den Kern
aller Versuche, das Theater oder die Kunst zu revolutionieren. Dieser Kern
liegt eben in der inszenierten Verunsicherung des Publikums, daß sowohl
der eigenen wie auch der inszenierten Realität nicht zu trauen ist, ohne die
Fähigkeit zur Selbstreflexion. Jeder muß letztlich selbst die Antworten auf
seine Fragen finden. Diese Kunstauffassung entspricht sowohl den ersten
Provokationsstrategien der historischen Avantgarde, die nicht
für, sondern gegen das Publikum agieren wie auch den Versuchen einer
Wahrnehmungsschulung des Kunstrezipienten, die die aktionsorientierten
Richtungen der sechziger Jahre verfolgt haben.
So hat bei Schlingensief eigentlich jedes direkte oder
indirekte kunsthistorische Zitat auch immer einen gewissen
Unterton, der die gezeigte Inszenierung gleichzeitig in Frage stellt und
überprüft: »Schlingensief lernte, daß seine Interessen ästhetisch nur
durch die ihm eigen gewordene krude, verwirrende Melange aus Authentizität
und Zitat durchzusetzen sind.«[181]
Das Stück wird zur Show, im wahrsten Sinn zur Schau, die die theatrale
Inszenierung mit den Elementen unserer modernen Unterhaltungskultur vermischt.
Dazu gehören Zusammenschnitte aus Fernsehsendungen wie: »Bitte
melde Dich«, »Der Kommissar«, eine fingierte Talkshow, musikalische
Playback-Einspielungen, zu denen ein Akteur mit Gitarre asynchron den Mund
bewegt oder Live-übertragungen des Bühnengeschehens auf Großleinwand.
Diese Montage von Attraktionen erinnert an das futuristische
Variet� oder das dadaistische Kabarett. Schlingensief übernimmt damit
aber nicht einfach eine ästhetische Gestaltungsform als historisches
Zitat, sondern integriert darüber hinaus auch Elemente des brechtschen
Theaters (Schautafeln, erklärende Kommentare, Lehrstückcharakter), der
Piscator-Bühne (technisierte Bühne, Film- und Toneinspielungen) und des
politischen Dokumentartheaters: »Schlingensiefs Theater prüft
alle politischen und ästhetischen Konzepte noch einmal – durch
kindliches Nachmachen.«[182]
Aus der Synthese dieser unterschiedlichen Elemente wächst nun keine Form,
die sich als absolutes Theater präsentiert, sondern vielmehr das Ziel verfolgt,
narrative und geschlossene Strukturen zu durchbrechen und den Zuschauer
buchstäblich ›außer Atem‹ zu bringen. Ständig wird den Anwesenden über die
schnellen Szenenfolgen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit abverlangt. Man
kann sich also nicht dem erzählenden und damit unterhaltenden Charakter
einer traditionellen Form des Theaters hingeben und entspannt zurücklehnt
darauf hoffen, daß das Gezeigte nachvollziehbar aufgelöst wird. Die
beschleunigte fragmentarische Szenenfolge und Zitatmontage
bedient nun aber auch keinen vordergründigen Selbstzweck, der mit den Wirkungen
des Spektakulären und den Attraktionen kalkuliert. Das Verwirrspiel zwischen
Realität und Inszenierung fordert den Widerspruch, das Eingreifen des
Zuschauers, um nicht in eine affirmative Haltung zu verfallen. Als der
Hauptdarsteller Bernhard Schütz (schon in vorhergehenden Szenen auffallend
aggressiv und gewaltbereit aufgetreten) die Darstellerin Astrid Meyerfeldt
durch die Zuschauerreihen verfolgt und sie in offensichtlichen Anspielungen
versucht zu vergewaltigen, ist das Publikum selbst zum Agieren herausgefordert.
Als sie schließlich im mitten der Zuschauer auf dem Boden liegt, um Hilfe
schreit und Schütz versucht ihren Mund zuzukleben, beginnen einige aus dem
Publikum ihn daran zu hindern. Die Zuschauer scheinen sich nicht mehr
sicher zu sein zu können, daß es sich lediglich um eine Inszenierung handelt.
Sie versuchen ihn festzuhalten, wegzustoßen oder zu treten. Schließlich
kann sie sich befreien und läuft, von ihm gefolgt, aus dem Theater. Ohne
anschließenden Kommentar sieht man sie nach einiger Zeit auf der Brüstung
des Theaterbalkons sitzen und deutet an, sich umbringen zu wollen. Trotz
des spürbaren Inszenierungscharakters, schafft es die angedeutete Darstellung,
den Zuschauer in den Kategorien Spiel und Wirklichkeit zu verunsichern
und das Thema der alltäglichen Ohnmacht und Teilnahmslosigkeit in der
Gesellschaft erfahrbar zu machen: »Jedes Stück riskiert immer noch mehr
Leben, immer noch mehr Verwechselbarkeit mit Wirklichkeit, der politischen
und sozialen.«[183]
Die Ebenen zwischen Spiel und Wirklichkeit sind nicht mehr eindeutig
voneinander zu trennen. Jeder einzelne kann sich nicht hinter der anonymen
Masse des Publikums verstecken, sondern ist zum eigenen Handeln
aufgefordert.
So wird aus der übergreifenden Thematik über Dutschke und
den Widerstand von '68 ein Stück gestaltet, daß den individuellen Erzählstil
der schlingensiefschen Theaterstücke deulich macht und auch die moralische
und sozialkritische Haltung des Künstlers zeigt, der sich nicht an Ideologien
orientiert, sondern eigenverantwortliches Handeln propagiert. Er erzählt dabei
nicht, was er persönlich für richtig oder falsch hält, sondern zeigt
die unterschiedlichen Facetten von Handlungsweisen zwischen Flower Power
und RAF, die gleichzeitig auch eine Reflexion auf die Gegenwart beinhalten:
»›Rocky Dutschke, '68‹ war die erste große Besichtigungstour durch den Fundus
der Weltprotestssprachen, mit den Schwerpunkten Agit-Prop, Happening,
Aktionismus und Flower-Power.[184]
Der Eingriff in die Lebenswelt der Zuschauer folgt keiner eindeutigen Ideologie
oder Moralvorstellung, obgleich die Stücke vor und nach »Rocky Dutschke« in der
Schlingensief eigenen Art immer ideologisch und moralisch motiviert sind. Im
Gesamtüberblick der Arbeiten von Christoph Schlingensief zeigt sich ein
immer stärker werdendes Engagement für sozial benachteiligte Gruppen, das
schließlich 1998 in der ›Kunstpartei‹ Chance 2000 kulminiert. Sein Ziel
besteht darin zu verhindern, »[...] daß Arbeitslose und andere Minderheiten nur
noch als rhetorische Größe, nicht aber mehr real und persönlich
vorkommen.«[185]
Vor allem seit ›Dutschke‹ besteht das Ensemble aus mehreren Behinderten, die in
den Stücken mitwirken. So spielen in einer Szene aus Rocky Dutschke '68 Mario
Garzaner und Dieter Mathan eine Talkrunde nach, in der beide die Frage diskutieren
sollen, ob Sozialismus und Kommunismus in der heutigen Gesellschaft noch
möglich seien. Letztlich wiederholt Mario – als Moderator – nur
immer wieder die Frage und Dieter Mathan – als Rudi Dutschke –
antwortet aufgrund seines schweren Sprachfehlers absolut unverständlich:
»Ja, möglich«. Die unfreiwillige Komik, die daraus in der Szene entsteht, wird
Schlingensief des öfteren negativ ausgelegt. Etwa in dem Sinn, daß er die
Behinderung seiner Akteure benutzt, um sie der Lächerlichkeit preizugeben.
Die nachgestellte Talkrunde stellt nun aber nicht die Behinderung der
Darsteller zur Schau, oder führt den eigentlichen Sinn der Frage ad absurdum,
sondern impliziert die schlingensiefsche Art der Kritik am Medium der
Talkshow[186],
die er zwei Jahre später in einem Interview auf den Punkt bringt:
»Ich glaube jeder Pädophile, jeder Geschlechtskranke,
jeder Schizophrene und so weiter, jeder Arbeitslose, jeder Taschendieb und
Was-weiß-ich-was ist der Meinung, daß sein Thema besprochen wird in der
Welt, und zwar in den Talkshows. Frau Scheiße trifft Herrn Scheiße, und sie
reden über Scheiße. Genau darin liegt die Täuschung: Im Besprechen ist man
nämlich nicht existent.«[187]
Im Stück wird an mehreren Stellen die Inszenierung mit
der physischen Lebenswelt der Zuschauer konfontiert, deren Reaktionen
unmittelbare Handlungen der Akteure nach sich ziehen. So wird ein
Zuschauer in der ersten Reihe aufgrund seines Lachens und einer abfälligen
äußerung gegenüber der Sprachbehinderung von Dieter Mathan vom
Hauptdarsteller Bernhard Schütz attackiert und bloßgestellt. Vergleichbar
mit den handfesten Auseindersetzungen während der dadaistischen Aufführungen
überschreitet auch ›Dutschke‹ die Grenze zwischen Bühnengeschehen
und Zuschauerraum, die bei der Publikumsbeschimpfung eines Peter
Handke in den sechziger Jahren immer noch existent ist. Der Zuschauer wird zum
Agieren herausgefordert und seine Reaktion hat – analog zum Alltag
– direkte Auswirkungen auf seine Lebenswelt. So kreisen eigentlich die
meisten Szenen weniger um die konkrete Geschichte von '68 und Rudi Dutschke,
als vielmehr um das Thema der ›Haftbarkeit‹ des Einzelnen vor der Gesellschaft.
Im Vordergrund steht dabei nicht so sehr das Transportieren einer bestimmten
Ideologie oder politischen Absicht, sondern vielmehr die Aktivierung des
Bewußtseins für die individuelle Verantwortung aller zu handeln. Auf dieser
allgemeineren Ebene steht Schlingensiefs Theater, seine Aktionen und das
politische Engagement der Chance 2000-Partei in der Tradition der
›Kunst-ins-Leben-Bewegung‹, die Kunst von ihrer vergeistigten oder rein unterhaltenden
Funktion befreien will. Vor allem aus dieser Motivation heraus wird die Inszenierung
im Rahmen des Theaters immer wieder durchbrochen, für den Zuschauer
als Inszenierung transparent gemacht oder die Grenze zwischen Spiel und
Realität aufgehoben.
Das Theater Schlingensiefs öffnet sich mit Rocky Dutschke
'68 dem öffentlichen Raum, löst sich aus dem geschlossenen Rahmen der
Erzählung und der Illusion und wird bewußt dissonant und subjektiv inszeniert.
Wie in den vorhergehenden Filmen scheint sich das Stück in der
beabsichtigt dilettantischen Machart, den üblichen ästhetischen Bewertungskategorien
zu entziehen: »Wenn ich am Theater arbeite, habe ich das Gefühl, daß ich
eingeladen werde, das Kinderzimmer ein bißchen
durcheinanderzubringen, dann fahre ich wieder ab.«[188] So kritisiert
dann auch der bürgerliche Theaterapparat das Gezeigte als unfertig oder naiv:
»Wie verhält sich jemand, der 1968 gerade sieben war, zu
dieser Generation, der er weiland höchstens einen Lutscher entgegenhalten
konnte? Der mittlerweile 35jährige Schlingensief hat eine überzeugende
Antwort: Er benimmt sich wie einer, für den durch den Schock von '68 die
Zeitrechnung zum Stillstand kam, also immer noch wie ein Siebenjähriger.«[189]
Die Verweigerung einer perfekten dramatischen
Illusionsbildung zeigt aber gerade den verallgemeinerbaren Kern der
schlingensiefschen Kritik an der medialen Inszenierung, sei es nun
Film, Theater, Talkshow oder Theaterkritik. Stillstand stellt sich
dann ein, wenn keine Fragen mehr gestellt werden, wenn die Inszenierung perfekt
zu sein scheint. Die schlingensiefsche Inszenierung stellt in diesem Sinne
Fragen an die Inszenierung selbst, indem sie als brüchig und veränderbar
gezeigt wird. Ganz egal, ob diese Fragen nun intelligent oder kindlich naiv
sind. Die Fragmentarisierung der Inszenierung thematisiert die Notwendigkeit
des eigenverantwortlichen Handelns im Umgang mit ihr und sich selbst.
Schlingensief fordert über die nicht direkte Verständlichkeit zur Reflexion und
Selbstreflexion auf, was natürlich nicht den Unterhaltungswert der
perfekten Inszenierung � la Godzilla[190] produziert und
auch gar nicht will. Produziert bzw. inszeniert werden Widerstände,
an denen sich der Zuschauer ›reiben‹ muß. Gerade aus diesem Grund ist
›Dutschke‹ kein politisches oder sozialkritisches Plädoyer, das sich
als geschlossenes Bild darstellt. Mit den vielfältigen Bezügen und
Anspielungen, die zeitlich und inhaltlich nicht unbedingt an das eigentliche
Thema gebunden sind, wird im Gegensatz zur oben zitierten Kritik der Zeitschrift
Theater heute deutlich, daß es Schlingensief um eine andauernde künstlerische
und menschliche Beweglichkeit geht, die auf die ewigen Wandlungsprozesse
in der Welt reagieren kann und privaten wie auch gesellschaftlichen Stillstand
verhindert: »Es entsteht die lustvolle Herausforderung, mit künstlerischen
Mitteln in die Inszenierungen des Alltags einzugreifen.«[191]
So zeigt das Ende der Aufführung von Rocky Dutschke '68 am 20. Juni 1996 die
Tendenz, um die Schlingensief sein Beschäftigungsfeld erweitert.
Analog zum Anfang des Stückes, das vor dem Theatergebäude mit der fingierten
Demonstration beginnt, endet dieser Abend mit der Entscheidung für die Zuschauer,
sich an der geplanten Aktion 2. Surrealistisches Manifest zu
beteiligen. In Anlehnung an Andr� Bretons Manifest des Surrealismus, daß
der einzige surrealistische Akt darin bestehe, mit einer Pistole wahllos in die
Menge zu schießen, machen sich Schlingensief, die Darsteller und
Zuschauer auf den Weg in den der Volksbühne angegliederten Prater, um
währenddessen einige Aktionen in der öffentlichkeit durchzuführen.
Natürlich ist es nicht das Ziel, jemanden zu erschießen, aber trotzdem
erregte die erweiterte ›Aktionsfamilie‹ einiges Aufsehen. U. a. durch den dort
zum ersten Mal verkündeten Satz »Tötet Helmut Kohl«, der 1997 bei der
Schlingensief-Aktion Mein Fett, mein Filz, mein Hase – 48 Stunden überleben
für Deutschland im Rahmen der documenta X zur Festnahme des Künstlers
führte. Die Aktionen bilden einen weiteren Wendepunkt in der künstlerischen
Auseinandersetzung von Schlingensief mit den Inszenierungen in der
Kunst und der alltäglichen Realität der Medien und Politik.
4.1.3 Dekonstruktion der Inszenierung II : Aktionen
Die bisher beschriebenen Stationen im Werk von Christoph
Schlingensief laufen in einer direkten Entwicklungslinie – ohne dabei
eine Gattung völlig aufzugeben – über Film und Theater zu
unmittelbaren Aktionen in der öffentlichkeit, die sich konsequent mit
den Themen der (medialen) Inszenierung von Gesellschaft und der Kopplung von
Kunst und Lebenspraxis beschäftigen. Die Trennung zwischen Theater
und Realität wird in der Aktion durch die unmittelbare Präsenz im
Alltag und die fehlende ›Erhabenheit‹ des vorbelasteten Theaterraumes im
noch höheren Maße aufgehoben. Angesprochen werden nun zum Teil Menschen,
die sich nicht bewußt in den Inszenierungsrahmen des Kunstraumes begeben
und eine entsprechende Erwartungshaltung besitzen, sondern Menschen,
die sich in ihrer gewohnten Alltäglichkeit bewegen und beobachten:
»Mit der Installation von Schlingensiefs ›Bahnhofsmission‹
[...] und der Vermischung der Menschen vor Ort mit dem angereisten
Kulturgast begann die ›Was-passiert-dann‹-Maschine sich ohne Gurt und
Sicherheitsabstand in Bewegung zu setzten und entfernte sich dabei
endgültig aus der Bildungshöhle, wo der kluge Mensch noch immer bequem sitzt
und Jahrhunderte alte Felszeichnungen anstarrt.«[192]
Für die im Oktober 1997 im Hamburg durchgeführte Aktion 7
Tage Notruf für Deutschland[193]
reflektiert Carl Hegemann die spezifische Qualität der kreativen
Gestaltung des öffentlichen Raums:
»Seine ›Bahnhofsmissions‹-Aktionen sind Uminszenierungen
sozialer Realitäten rund um den Hamburger Bahnhof, die für das, was dort
passiert, eine (andere) Sprache finden sollen. Gleichzeitig sind sie der
kontrollierte Versuch, die amateurhaft geschriebenen, oft schlecht
erinnerten und halbherzig umgesetzten Alltagsdrehbücher nach den
Gestaltungskriterien künstlerischer Arbeit zu verbessern, das heißt
lebenswerter zu machen.«[194]
Das Theater inszeniert eine erfundene dramatische
›Realität‹, die mit künstlerischen Mitteln möglichst nah an der Wirklichkeit
orientiert ist. Wie man an Rocky Dutschke '68 und den anderen Stücken von
Schlingensief sehen kann, ist diese dramatisch inszenierte Realität schon mit
der unmittelbaren Lebenswelt der Zuschauer vermischt. Die Aktion
bedient sich nun der unmittelbaren Realität, die nach der Vorstellungskraft des
Künstlers uminszeniert und damit künstlerischer bzw. umgestaltet wird. Eine
deutlich zu unterscheidende Funktionalität, die für Schlingensief im September
1997 mit der Kasseler Aktion Mein Fett, mein Filz, mein Hase. 48 Stunden
überleben für Deutschland. seinen Ausgangspunkt findet.
Die Aktionen zeigen deutlich, was sich in den Filmen und
Theaterstücken von Schlingensief eigentlich schon andeutet, nun aber viel
direkter und aggressiver gestaltet ist. Er nimmt sich in den Aktionen
den vielfältigen Inszenierungen des Alltags an und dekonstruiert
diese, indem er sie in etwas abgewandelter Form neu zusammensetzt. Am
Theater, im Film oder Fernsehen bedeuten Inszenierungen
Konstruktionen von Bildern, die die Vorstellungswelt der Menschen beeinflussen
bzw. manipulieren. Diese Art der Manipulation hat mittlerweile auch in
alltäglichen Bereichen von gesellschaftlicher und privater Meinungsbildung
einen Grad an Perfektion erreicht, das ein Bewußtsein für die Inszeniertheit
zunehmend verloren geht. Hier bietet die künstlerische Aktion die Schnittstelle
und bedient sich selbst dem Mittel der Manipulation, indem Bereiche des Alltäglichen
umgestaltet werden. Der Berührungspunkt zwischen künstlerischer Gestaltung
und konventionellen Lebensabläufen wird unmittelbarer, lebensnaher.
Nicht die theatralen oder filmischen Inszenierungen, die
harmonisch geschlossene Bilder und Symbole konstituieren, werden
vor den Augen der bildungsbürgerlichen Zuschauer vernichtet, sondern
die Inszenierungen, mit denen jeder tagtäglich konfrontiert ist. Schlingensief
nimmt sich die allgegenwärtigen Inszenierungen von Medienstars, Politikern,
Talkrunden etc. vor, die darauf ausgerichtet sind, ein makelloses, in
sich schlüssiges Bild zu konstruieren. Hier greift die schlingensiefsche
Dekonstruktion ein, um gesteuerte Imagebildung und Verschleierung
ans Licht zu fördern. Was unter dem Thema Bahnhofsmission den
Anschein einer pseudocaritativen Selbstinszenierung erweckt, kreist
gerade um das Thema der inszenierten ›Gewissensberuhigungen‹
innerhalb der Gesellschaft, um die aufgebaute ›Scheinrealität‹ entlarven zu
können.
Bei 7 Tage Notruf für Deutschland ist wieder das gewohnte
Ensemble der Volksbühnen-Stücke vertreten, u. a. erweitert durch den
Ex-Chefdramaturg des Berliner Ensembles Carl Hegemann. Das Verlassen des Theaters
als Inszenierungsraum zugunsten eines ›sozialen Krisengebiets‹
erfordert jedoch eine gänzlich andere Vorgehensweise, da die zu
erreichende Adressatengruppe im Hamburger Milieu anders funktioniert,
als das Berliner Volksbühnenpublikum. Denn auch bei Rocky Dutschke '68 und
Ufokrise '97 ist die Distanz zum Publikum noch nicht gänzlich verschwunden bzw.
der direkteste Kontakt zwischen Kunst und Publikum noch nicht erreicht: »Er
wollte raus aus dem Musentempel, ›etwas Leben in die Intellektuellen bringen‹
und die Kunst an der deprimierenden Lebenswirklichkeit schärfen.«[195]
Und an »deprimierender Lebenswirklichkeit« mangelt es rund um das
Hamburger Schauspielhaus im Stadtteil St. Georg auf keinen Fall. Kennt man die
Art der Vorgehensweise, ist es nicht verwunderlich, daß Schlingensiefs erster
Entwurf für Passion Impossible vorsieht, eine ganze Wand des Theaters niederzureißen,
um den Blick auf das soziale Spannungsfeld zwischen erhabener Hochkultur und
Fixermilieu freizugeben. Natürlich wird dieser Vorschlag nicht in letzter
Konsequenz durchgeführt, zeigt aber schon, daß Schlingensief, der sich dazu
überreden lassen muß, die Premiere der Aktion im Schauspielhaus in einer Art
Benefiz-Gala stattfinden zu lassen, mit der gewohnten Vehemenz sein Ziel
verfolgt. Der Sinn und Zweck dieser Gala ist auf beiden Seiten (also
Schauspielhaus und Schlingensief-Ensemble) eher pragmatisch motiviert.
Das Hamburger Theater will sich als Mitinitiator der Aktion präsentieren
und die Schlingensief-Familie bekommt das Geld der ›Wohltätigkeitsgala‹ für die
anschließende 6-Tage-Bahnhofsmission. Allerdings benutzt Schlingensief
den scheinbaren Kompriß in einem doppelten Sinn. Er gestaltet den Abend als
»Karikierung einer weltweit verbreiteten glamourösen Hilfskultur, die sich
hauptsächlich in Eitelkeiten ergeht.«[196] Die
schlingensiefsche ›Verwirr-Maschinerie‹ läuft auf Hochtouren und
zeigt in der Abendgestaltung, wie Inszenierungen dekuvriert werden
können, die lediglich ihre eigene perfekte Scheinrealität verfolgen.
Er inszeniert die Widersprüche, stört den glatten Ablauf und zeigt den heuchlerischen
Kern, mit der jede auf Perfektion angelegte caritative Inszenierung
an der Wirklichkeit vorbeiläuft. So auch an der Realität des angrenzenden
Bahnhofsviertels, für das im Verlauf des Abends eigentlich gesammelt und
versteigert wird. Die Gestaltung des Abends stützt sich auf eine
Ambivalenz, die in ähnlicher Form in der eigentlichen Bahnhofsmission ebenfalls
aufgebaut wird. Die schöne und glamourös konstruierte Scheinrealität der
Show-Veranstaltung trifft auf die soziale Realität, die den Glanz des
Spektakels ankratzt. So wird die feierliche Premiereneröffnung durch eine
Versteigerung von Promi-Kleidung gerahmt, die vom Hamburger Auktionator Klaus
Kendzia durchgeführt wird. Das Schlingensief-Ensemble inszeniert mehr
im Hintergrund Situationen, die die feierliche Stimmung in Form von
Videoeinspielungen, mehrdeutig pathetischer Predigten, Zwischenrufen
und gemeinschaftlichen Liedern, »Der Blick in das Gesicht, eines Menschen dem
geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend, Freund, Freund, Freund« nach
Bertolt Brecht oder »Wir wollen trauern, trauern, bis die Welt sich nicht
mehr dreht. Wir wollen trauern, trauern, bis ihr uns versteht«, teils ironisch,
teils ernst durcheinanderwirbelt:
»Ihr müßt einfach wieder an euch glauben [...]. Ihr könnt
eure Emotionen aufbrechen, wenn ihr sagt, wir öffnen unsere Tore für die
Menschen, die draußen am Hauptbahnhof wirklich zu Grunde gehen.Werden Sie
also weich. Glauben Sie nicht, daß ich kotze oder kacke. Es geht wirklich um
einen Aufmarsch, eine neue innere Kraft, die ich wecken will [...].«[197]
Keiner der Anwesenden kann sich sicher sein, ob es sich um
die Offenbarungen eines zum Guten bekehrten Provokateurs handelt oder
um die ironische Zur-Schau-Stellung der alltäglichen Wohlfahrtsplatitüden.
In jedem Fall wird der geregelte Ablauf der Veranstaltung gestört, die
Erwartungshaltung der Gäste zum Teil erfüllt oder auch empfindlich
verletzt, als Schlingensief im Rahmen der Versteigerung beispielsweise
ankündigt, ein Huhn zu enthaupten, falls niemand aus dem Publikum es
für wenigstens DM 3000 freikauft. Die mediale Inszenierung ist plötzlich
mit den eigenen Mitteln auf den Kopf gestellt, indem sie bewußt macht, worum es
eigentlich gehen soll. Nicht um symbolische Spendenbeiträge, die ohnehin
keine ›Opfer‹ für die reichen und prominenten Gäste bedeuten, sondern um
Handlungsbedarf und -breitschaft:
»Das Prinzip Verstörung, das bewußte in der Schwebe halten
von Bedeutungen, zog sich wie ein roter Faden durch den Abend und machte es
vielen Zuschauern nicht leicht, der prüfenden Dialektik von Aussage und
Irritation im Entwirren hinterherzukommen.«[198]
Dieses Wechselspiel zwischen Ernst, Ironie, infantilem Spaß
und tatsächlicher Anteilnahme, das in den theatralen Inszenierungen schon
erprobt wurde, muß sich nun in der Alltagsrealität beweisen und bildet die
Vorstufe zu anschließenden Aktionen in der ehemaligen
Polizeiwache, dem Fußgängerzentrum, den unterschiedlichen
öffentlichen Räumen, in denen die eigentliche Interaktion zwischen Kunst und
sozialer Realität durchgeführt werden wird. So liegt der Schwerpunkt
des Interesses auf der anschließenden 6-Tage-Aktion, die zeigen muß, ob soziale
Intervention mit gestalterischen Mitteln die künstlerische Inszenierung
des Alltags möglich und sinnvoll erscheinen läßt. In Kassel waren die
spezifischen Bedingungen für die 48 Stunden überleben für Deutschland-Aktion
noch auf den kulturell geschützten Raum der documenta-Ausstellung abgestimmt,
wo man mit einem relativ eng einzugrenzen Publikum rechnen konnte, das
eine wesentlich höhere affirmative Haltung zum Thema Kunst besitzt, als die
heterogene Zusammensetzung der Zuschauer in Hamburg. In der ehemaligen
Polizeiwache 11, die in der Nähe des Hauptbahnhofs liegt, will das
Ensemble die verbleibenden 6 Tage mit Obdachlosen, Junkies, der Presse, ›Kunsttouristen‹
und Hamburger Bürgern in verschiedenen gestalteten Situationen verbringen.
Die Ex-Wache bildet dabei das ›Basislager‹ des Geschehens, der Ort, von
dem aus die ›Außeneinsätze‹ starten, und die Bedürftigen kostenloses
Essen und Trinken bekommen, aber auch am offenen Mikrophon ihre Situation
mit den Nichtbetroffenen diskutieren können. Gleichzeitig werden hier die
Aktionen in der öffentlichkeit entworfen und geplant, die man mit der »Bahnhofsmission«
unter der Regie von Schlingensief mit allen Beteiligten als
Uminszenierungen der angrenzenden öffentlichen Räume startet. Analog zur
Premieren-Gala finden keine vorherigen Proben statt. Die Aktionen werden
lediglich nach Ideenskizzen und schon verwendeten Inszenierungsmitteln
improvisierend durchgeführt. In fast schon messianischer Geste schafft es
Schlingensief in Hamburg wieder neue Mitglieder für seine ›Familie‹ anzuwerben,
die integrativ in den Prozeß des Machens miteingebunden werden. Wahrscheinlich
ist die Vermeidung von pathetischem Sendungsbewußtsein und der
anarchisch situationistische Unterton des ›Wir-machen-Was‹ dafür
verantwortlich, daß sich aus sozial voneinander isolierten Teilen der
Gesellschaft eine Gruppe formen kann. Fernab einer sozialen Institution
entstehen daraus wechselseitige Kommunikationssituationen,
die auf Authentizität bauen und die Vertrauensbarrieren untereinander ohne
sozialpädagogische Hilfsmittel verringern:
»[...] das Zusammenkommen von Menschen, die sonst gar
nichts miteinander zu tun haben, bekam hier erstmals eine Selbstverständlichkeit,
das Gefühl von Freundschaft und Gemeinsamkeit stand im Raum und löste sich in
spontanen Gesprächen oder einfach freundlichen Gesten.«[199]
Auf der Basis dieser authentischen und offenen Umgehensweise
miteinander bildet sich ein Vertrauensverhältnis, das das Ensemble um
Schlingensief bei den öffentlichen Aktionen unterstützt. Die
Hemmschwelle gegenüber der Kunst und den karnevalesken Selbstinszenierungen,
wenn Schlingensief beispielsweise als Priester verkleidet einen
Prozessionszug anführt, scheint abgebaut zu sein. Mit dem Mut
ernstgenommen zu werden, beiteiligen sich alle, die aus dem Bahnhofsmilieu
in die Mission gekommen sind, an den Verkleidungszügen gegen eine
öffentlichkeit aus der sie immer wieder verdrängt werden. Die meisten
Beteiligten scheinen zwischen den ernsthaften Diskussionen, dem gemeinsamen
Singen von »Der Blick in das Gesicht, von einem Menschen dem geholfen ist
[...]«[200]
und den meist ironisch gemeinten Verkleidungen der Theaterleute nicht erkennen
zu können, daß hier Kunst in einer nicht gewohnten Art ausgelebt werden
soll. Keine Kunst, die denen, die es sich leisten können, zur Unterhaltung
dient, sondern eine, die eine andere Aufmerksamkeit in der öffentlichkeit
erwecken will. So verkleidet sich jeder Akteur des Ensembles in einer
Rolle, die mit dem Thema »Helfen« gesellschaftlich verbunden werden kann.
Man tritt in grün-weißer Uniform als Ordnungshüter, Blauhelm-Soldat,
verkitschte Jesus-Figur, Sanitäter oder Heilsarmee-Mitglied auf und
verrichtet so den Essens- und Kaffeeausschank, während auf der Bühne
von Ex-Häflingen über die unmenschlichliche Behandlung in der ehemaligen
Polizeiwache 11 berichtet wird. Im Verlauf der sechs Tage entwickelt sich die
offene Bühne zum Ort des sozialen Erfahrungsaustauschs, der die
Vorurteile, ängste und Problemstellungen sowohl der Betroffenen,
wie auch der zu ›Treffenden‹ spiegelt. Junkies, die sich auf der Bühne in die
Rolle der resignierten Opfer begeben, werden von anderen Junkies aufgefordert,
sich ersteinmal selbst »in den Arsch zu treten«, ebenso wie der gutbürgerliche
Beobachter durch den Satz eines Passanten: »Nur der Steuerzahler ist ein
Mensch!«[201]
mit den eitrigen Ergüssen aus dem eigenen Milieu konfrontiert wird. Unter
diesen unmittelbar gemachten Erfahrungen zieht die heterogene Gruppe in
den Außeneinsätzen durch die unterschiedlichsten Inszenierungsräume
des Hamburger Alltags. So wandelt man als Prozessionszug durch die
Bahnhofshalle und hält dort auf dem Vorplatz einen Gottesdienst ab, man besucht
einen regulären Gottesdienst, wo im Anschluß an das übliche Zerimonell ein
Junkie-Mädchen ihre ganz persönliche Leidensgeschichte von der Kanzel
herab erzählt, man entert eine Aufführung des Schauspielhauses und diskutiert
auf der Bühne über die Weiterführung der Mission nach Ablauf der sechs Tage,
oder zieht als fingierte Polizistendemonstration durch das Fußgängerzentrum,
um den Passanten zu erklären, daß die Hamburger Polizei nicht mehr bereit ist,
die Bürger vor Drogenabhängigen, Dealern und Obdachlosen zu beschützen.
Die ausgelöste Irritation ist bei Passanten und tatsächlicher Polizei
wechselseitig groß. Die Aktionisten haben es über die Selbstinszenierung geschafft,
die Kategorien Realität und Spiel, Kunst und Alltag miteinander
zu vermischen und in die routinierten Alltagsinszenierungen
eingegriffen: »So endete der Aktionstag Polizei wie er begonnen hatte: Als
Verwechslung von Leben und seiner Imitation.«[202] Wie unbewußt die
imitierten Polizisten selbst mit ihrer alltäglichen Rolle umgehen, zeigt
die letzte unfreiwillige Zusammenkunft zwischen Original und Fälschung.
Als sich Bernhart Schütz nach seinem nicht inze-nierten körperlichen
Zusammenbruch völlig erschöpft durch die Innenstadt schleppt, wird er von
›echten‹ Ordnungshütern angehalten und gebeten, durch seine mangelnde
Haltung nicht das öffentliche Bild der Hamburger Polizei zu schädigen. Die unfreiwillige
Komik dieser Szene spricht wohl für sich selbst und erklärt, warum das
Verwirrspiel mit der Polizistenimitation im Alltag noch besser funktioniert,
als in den Anfangsszenen von Rocky Dutsche '68 vor dem Volksbühnen-Theater
in Berlin. Dort ist den Zuschauern die Inszenierung jeder Zeit bewußt, weil sie
im Rahmen des Theaterstücks abläuft. Auf der Straße zwischen Passanten und
›richtiger‹ Polizei wirkt sie als Verstörung der gewohnten und erwartbaren
Muster, die es in ihrer Inszeniertheit zu erkennen gilt. Darüber hinaus liegt
in der Art der Inszenierung eine kritische Reflexion über die Erzeugung
von Bildern, die der kollektiven Unterdrückung von sozialen Problembereichen
dienen, um eine Auseinandersetzung und direkte Konfrontation mit ihnen zu
vermeiden. Die Ordnnungskräfte halten im wörtlichen Sinn nur ein Bild der
Ordnung aufrecht, indem die Bilder von Drogenkonsum und Obdachlosigkeit
aus der öffentlichkeit verbannt werden und an anderen Stellen weiter
existieren:
»Die erzwungene überprüfung von solchen Selbstbildern, an
denen die Individuen zum Schutz ihrer vermeintlichen Persönlichkeit ein Leben
lang mit Hoffnung und Verzweiflung gefeilt haben, war das Prinzip der
sogenannten Außeneinsätze in der Hamburger Fußgängerzone, am Bahnhof,
vor dem Rathaus, in der Peepshow und bei den Scientologen sowie auf den
Wegen dazwischen.«[203]
Diese gemeinsam durchgeführten Aktionen und Verunsicherungen
der nächsten Tage reihen sich in dieses, alles andere als dilettantische System
von Alltagsuminszenierungen der schlingensiefschen ›Spaßguerilla‹
ein. Der nach bestimmten Wert- und Moralvorstellungen aufrechtzuerhaltende
Schein von Polizei, Bürgern, Politikern und geheuchelter Hilfsbereitschaft
wird von der Aktionsgemeinschaft Bahnhofsmission ebenfalls durch
inszenierten Schein entlarvt, um zu zeigen, daß Handeln nur in der direkten
Auseinandersetzung mit dem Gegenstand seinen Sinn erfüllt. Dies bedeutet
für die Aktion, daß Situationen gestaltet werden, die in Anlehnung an die
Happening- und Fluxusaktionen der sechziger Jahre, eine Wahrnehmungsschärfung
für die Inszeniertheit alltäglicher Verhaltensmuster und eine
Resensibilisierung für die eigene Rolle in diesem ›Spiel‹ hervorrufen können.
So befindet sich jeder Teilnehmer dieser synthetisch hergestellten ›Kunstfamilie‹,
vom Junkie bis zum Kulturtourist, im Wechselspiel zwischen Schein und Sein, das
zunächst mehr Fragen provozieren will als Antworten. Diese Art der
Vorgehensweise macht den Unterschied zwischen Künstler und Prediger
deutlich. Der Prediger hält im moralischen und ethischen Sinn Antworten
für die bereit, die über mangelnde Selbstreflexion nach Orientierung suchen.
Schlingensief entwirft – geplant oder intuitiv – Situationen, die
die in sich geschlossenen Systeme von Gesellschaft nach Schwachstellen
abtasten. Für die künstlerische Vorgehensweise, ob Film, Theater oder Aktion,
bedeutet dies, die in der alltäglichen Inszenierung enthaltenen, versteckten
Widersprüche offenzulegen, ohne in belehrende Predigen zu verfallen. Die
Hamburger Aktion zeigt in der Gestaltung dieser Widersprüchlichkeiten den
schlingensiefschen Stil der Verwirrung, der die Trennung zwischen
inszenierter und tatsächlicher ›Realität‹ aufhebt. Die Kritik an dieser
Vorgehensweise kommt dabei gerade aus den gesellschaftlichen,
künstlerischen und medialen Vermittlungsbereichen, deren Legitimation
u. a. darin besteht, die Inszeniertheit ihres Systems nicht erkennbar werden zu
lassen. Ob Schlingensief dabei nicht selbst seinen Inszenierungen verfällt
und diese Verhaltensmuster für die eigene Selbstinszenierung gebraucht,
muß im Einzelfall auch an den hier nicht berücksichtigten
Arbeiten geprüft werden. Mit seiner Leitthese »Scheitern als Chance« und seiner
Dialektik zwischen intellektueller Analyse und intuitivem Machen, vertreten
seine Arbeiten erst gar nicht den Anspruch einer von ihm in Frage gestellten
Perfektion oder perfekten Inszenierung.
Auch Schlingensiefs Freund Helge Schneider, der u. a. einen
Teil der Musik zum Film Die 120 Tage von Bottrop beigesteuert hat, arbeitet mit
Verstörungsmechanismen der Unterhaltungskultur. Bei ihm bedeutet
dies aber die ausschließliche Inszenierung des naiven Dilettanten, der die
Eigeninszenierung nur dann aufgibt, wenn die Akzeptanz dieser Rolle
beim Publikum zu hoch wird. Wenn dies passiert, verweigert er sich der
Inszenierung und spielt ernsthafte Jazzmusik. Schlingensief inszeniert sich
selbst und seine Inhalte in wechselnden Posen. Einmal präsentiert er sich als
aufständischer Spießersohn aus Mühlheim, der seine Bildung aus dem Fernsehen
bezogen hat, dann wieder als reflektierter Kenner philosophischer Theorien und
kunsthistorischer Entwicklungen, als normverletzender Provokateur
oder harmoniesüchtiger Medienkritiker. An seiner Person macht er genau das
deutlich, was sich auch in seinen Arbeiten als widersprüchlich und
ambivalent zeigt. Es ist die Art des Vorführens, daß im Leben, im Alltag und
auch in der Kunst keine eindeutigen oder perfekten Rollen oder Inszenierungen
existieren. Damit zeigt er, daß sich inklusive des Menschen alles im ständigen
Wandel befindet und ungeachtet dessen alle privaten und öffentlichen
Inszenierungen darauf hin ausgerichtet sind, ein eindeutiges, in sich
schlüssiges Bild zu konstruieren, das gegen Authentizität und Ehrlichkeit arbeitet.
Die Inszenierungen seiner Person, der künstlerischen Arbeiten, seiner Medienkritik
und des politischen Engagements umkreisen eigentlich immer dieses Thema:
»authentisch sein zu können«. Deshalb kann er auch auf der Eröffnungsgala
der Hamburger Aktion von allen fordern: »weich zu werden« und wenig später mit
dem angedrohten Köpfen eines Huhn das Publikum unmittelbar zum Handeln
herausfordern.
In Hamburg hat sich mit der Aktion Passion Impossible. 7 Tage
Notruf für Deutschland gezeigt, daß Schlingensiefs ›serielle Kunst‹
politisch sein kann, ohne vorgefertigte Ideologien zu transportieren. Sie zeigt
Möglichkeiten auf, mit der eigenen Kreativität caritativ zu werden, indem nicht
über Handlungsbedarf gesprochen wird, sondern über Handlungen selbst das
individuelle und kollektive Bewußtsein reaktiviert wird, ohne lediglich
der Gewissensberuhigung zu dienen. Sie hat auch gezeigt, daß der
Schritt der aktionsorientierten Kunst der sechziger Jahre, mit dem sie die
erhabenen Kulturräume der Museen und Theater verläßt, auch heute noch
funktionieren kann. Von daher scheint sich die von Georg Seeßlen angedeutete
Entwicklung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Kunst und
Leben bei Christoph Schlingensief konsequent zu verwirklichen: »[...] so
ist Schlingensief ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und
distanziert ist, der bewußt oder unbewußt, zur direkten Konfrontation, zum
Theater und zur Performance strebt.«[204] Schlingensief
agiert nicht aus der kühlen Distanz des intellektuellen Künstlers, indem er
seine gesellschaftskritische Perspektive in einer perfekten
künstlerischen Gestaltung verpackt, sondern öffnet sich mehr und mehr der
unmittelbarsten Vermittlung seiner Ideen. In diese Entwicklungslinie reiht sich
das aktuelle Projekt von Christoph Schlingensief nahtlos ein, das nach
einer Schnittstelle zwischen Kunst und Politik sucht. Die von ihm gegründete
Partei Chance 2000, die für die Bundestagswahlen 1998 über einige
Landeslisten wählbar sein wird, betritt mit ihrem Konzept eine weitere ›Bühne‹,
die nach Film, Theater, Fernsehen und direkter Aktion in der öffentlichkeit
auch dem System Politik die Eigeninszenierungen vorführen und
umgestalten will. Auch auf diesem Gebiet zeigt sich mit kalkulierter
Konsequenz die flexible Vorgehensweise des Künstlers, der mit dem Slogan:
»Wähle Dich selbst«[205]
auf die individuelle Verantwortung aufmerksam macht, eigenverantwortlich
mit den Inszenierungen des Alltags umzugehen, um die Leer- und
Bruchstellen in den illusionären perfekten Inszenierungen dechiffrierbar
zu machen.
»Natürlich ist er nicht der erste ‹Antikünstler›. Dada, die
Situationisten, Fluxus, Joseph Beuys lassen grüßen. Wenn man so will, ist
Schlingensief der Dadaist zu Faßbinders Expressionismus.«[206]
Mit Schlingensiefs Aktionen und Alltagsuminszenierungen ist
eine Entwicklungslinie von Anti-Kunst im 20. Jahrhundert –
unter dem Blickwinkel einer performativen Kunst, die Kunst und
Lebenspraxis einander annähern will – zunächst beendet. Von der
historischen Avantgarde führte der Weg über die Aktionskunstbewegungen der
sechziger Jahre bis in die Gegenwart. Aus den Aktionen Schlingensiefs und der
momentan aktuellen ›Einmischung‹ in Bereiche der Politik entstehen deutliche
Anknüpfungspunkte an die historischen Vorbilder, vor allem an das Leben
und Werk von Joseph Beuys, der hier nur am Rande erwähnt worden ist. Beuys hat
mit seinem gesamten Leben und Werk, insbesondere den Fluxus-Aktionen auf eine
Verschmelzung von Kunst und Lebenspraxis hingearbeitet: »Kunst [...]
schließt Anti-Kunst ein. Der Ausdruck bildet sich, sobald Musiker, Maler,
Dichter übergriffe auf Außerkünstlerisches gemacht hatten [...].«[207]
Im konsequenten Verfolgen dieser Leitidee hat er zum Beispiel ein
Alternativmodell zur staatlichen Demokratieform entwickelt, mit dem jeder
einzelne Teil der Gesellschaft eine direktere Repräsentationsmöglichkeit
seiner individuellen Standpunkte bekommt. Auch noch nach seinem Tod 1986 fährt
sein umgebauter Omnibus als Informationszentrum seiner politischen
Gedanken und Konzepte durch Europa, mit dem seine Anhänger auch weiterhin die
Ideen der direkten Einflußnahme des Einzelnen auf Gesellschaft, Politik
und Kunst in der öffentlichkeit verbreiten. In einer Monographie über sein
Leben und Werk heißt es im Vorwort:
»Beuys hat sich eine sehr behutsame Art angeeignet, mit dem
Publikum in Kommunikation zu treten und auf dessen jeweilige individuelle
Situation einzugehen, indem er sich zugleich als Lehrender wie auch
Lernender versteht.«[208]
Im Kontrast zu dieser vermittelnden Art von Beuys wirken
– so zumindest die oberflächlichen Betrachtungen – die Aktionen von
Schlingensief alles andere als »behutsam«. Aber auch bei ihm steht immer ein
ambivalentes Verhältnis zwischen Wissen und Lernen, zwischen Intuition und
Struktur im Zentrum seines Schaffens. Mal tritt er in aggressiv dadaistischer
Manier auf, wenn er sich handreiflich mit Polizei, Publikum und
Freunden anlegt, mal als harmoniesuchende Vaterfigur der ›Kunstfamilie‹
oder kindlich-naiver ›Lausbub‹. Sein Motto ist auf dieser Ebene mit Beuys vergleichbar, daß der Künstler sowohl Lehrender wie auch Lernender in einer Person sein muß.
Die gestellte Thematik, performativ-anti-künstlerische
Tendenzen unseres Jahrhunderts nachzuverfolgen, führt bei jeder
betrachteten Richtung zu einem Hauptanliegen der Künstler. Die Ablehnung der
traditionellen Kunst bindet sich in allen antikünstlerischen
Unternehmungen an den Wunsch, die Kunst aus ihrer ästhetischen Autonomie zu
lösen, damit sie frei für eine gesellschaftliche Funktion wird:
»Aus der Geschlossenheit von Kunst und Leben in der Person
Joseph Beuys resultiert auch die ambivalente Benutzung der Begriffe Kunst und
Antikunst, die für den Künstler keine Gegensätze beinhalten, sondern
methodische Funktion zur Gewinnung neuer Bewußtseinslagen haben mit dem
Ziel, humane Verhältnisse in der Welt zu etablieren.«[209]
Unter diesem Aspekt stehen sich Beuys und Schlingensief
gedanklich und künstlerisch sehr nahe. Letztlich steht nicht die Kunst im
Vordergrund, denn sie ist nur noch das Transportmittel für die eigentlich
Ideen, die auf eine Neubestimmung des Menschen in der Gesellschaft
abzielen. Weder Beuys noch Schlingensief wechseln damit ihr
Beschäftigungsfeld, um nun von der Kunst zur Politik überzuwechseln. Die
Bereiche werden vielmehr miteinander in Beziehung gesetzt, was
auf eine Konsequenz in ihrer künstlerischen Entwicklung hindeutet. Denn
Kunst kann erst dann aus ihrer ästhetisch funktionalisierten Autonomie
herausgelöst werden, wenn sie das geschlossene System Kunst verläßt und
sich den alltäglichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens zuwendet. Der erste
Schritt in diese Richtung bedeutet für Schlingensief aus dem Medium Film zum
Theater zu wechseln, da damit ein direkterer Kontakt zum Publikum möglich ist.
Mit Rocky Dutschke '68 und der Ufokrise '97 deutet sich schon an, daß auch die
Regiearbeit am Theater für ihn nur eine übergangs- bzw. Lernphase
bedeutet. ähnlich der Fluxus-Aktion Komposition von Robin Page (vgl. S. 54f.),
wird hier für die Inszenierung der Theaterraum zum Teil verlassen. Im zweiten
Entwicklungsschritt überwinden die Inszenierungen Schlingensief diesen als
Kunstraum festdefinierten Bereich und werden in alltäglichen
Räumen und Situationen gestaltet (vgl. die Hamburger Aktion 7 Tage Notruf
für Deutschland). Hier zeigt sich eine direkte Analogie zu
Joseph Beuys und dessen Hinwendung zu Fluxus-Aktionen in den sechziger
Jahren. In einer letzten Entwicklungsstufe werden von beiden die
gewonnenen Erkenntnisse auf gesellschaftspolitische Modelle übertragen,
was für Beuys: »[...] eine konsequente Fortsetzung der Suche nach einer
humanen Gleichsetzung von Kunst und Leben und einer Ausdehnung der plastischen
Idee auf jede emanzipatorische kreative äußerung menschlicher Tätigkeit
[...]«[210]
bedeutet. Auch bei Schlingensief kann man in ganz ähnlicher Form beobachten,
wie die zuvor im Rahmen der Kunst gewonnenen Erkenntnisse auf das
gesellschaftliche Leben übertragen werden:
»Jeder kann sich im Rollenspiel der eigenen Bedeutung bewußt
werden und aus Spiel Ernst machen. Für diesen aus Alltags- und Lebenskunst
resultierenden Prozeß wird PLC [Partei der Letzten Chance bzw. Chance 2000,
Anm. d. Verf.] Vorbilder und Modelle aus den Misch- und Interaktionszonen von
Kunst, Gesellschaft und Politik zur Verfügung stellen.«[211]
oder an anderer Stelle:
»Das Ansinnen ›Kunst muß politischer werden‹ wird hiermit
zum Parteiprogramm erhoben und mit der parteieigenen Forderung ›Poltik muß
kunstvoller werden‹ partnerschaftlich unterstützt.«[212]
Beuys und Schlingensief verfolgen das Ziel über die öffnung
der Kunst eine Bewußtseinsveränderung des Einzelnen zu erreichen, die sich
– wie der Künstler zuvor – den eigenen Einflußmöglichkeiten
bewußt wird und diese in die gesellschaftlichen Bereiche eigenverantwortlich
einbringt. Wenn man zuvor an der Reaktivierung des Kunstpublikums mit
verschiedenen Mitteln gearbeitet hat – sei es Theater oder Aktionskunst
–, wird nun jeder einzelne Teil der gesamten Gesellschaft angesprochen.
Bei Beuys wird dies zu einem Modell der direkten Demokratie durch
Volksentscheid, bei Schlingensief heißt es – bewußt metaphorisch
–: »Jedem muß es vergönnt sein, die ihm gemäße Rolle zu spielen. Jeder
ist die kleinste Einheit von Volk (1 Volk).«[213]
Die Zielvorstellung der Happenisten und Fluxuskünstler ist
es, eine repräsentative Funktion von Kunst zu gewährleisten, in der der
Zuschauer Teil des ›Kunstwerks‹ wird. über die Synthese von Individuum, Kunst
und Politik wird bei Beuys und Schlingensief diese Funktionszuweisung noch
zusätzlich erweitert, indem der Einzelne zum mitgestaltenden
Faktor erhoben wird. Dies führt wieder zurück zum Anfang dieser Untersuchung
und vor allem zu der These Saint-Simons über den Künstler, der als gesellschaftlich
und politisch aktiver Bürger, die Utopie einer Gesellschaftsveränderung
über die Kunst verfolgt. Jede bisher beschriebene Tendenz, ob Dada,
Hermann Nitsch oder Christoph Schlingensief, verfolgt den Aspekt
einer am Leben orientierten Kunst, die Einfluß auf Gesellschaft bzw.
auf das Bewußtsein des Einzelnen hat. Auch ist allen Tendenzen gemeinsam,
daß man unter diesem Aspekt zu performativen Formen übergeht, die die
direkteste Einflußnahme auf den Zuschauer garantieren. Ein qualitativer Unterschied
besteht allerdings in der angesprochenen Aktivierung des
Einzelnen, woran sich die untersuchten Phänomene unterscheiden lassen. Die
von Beuys und Schlingensief entwickelten Modelle einer künstlerischen
Einflußnahme auf die Politik stellen nicht den Künstler ins Zentrum der
gesellschaftlichen Veränderung. Sie versuchen über ihr kreatives
Repertoire Randbedingungen zu schaffen, in denen das Individuum
selbst die Funktion des Künstlers im alltäglichen Leben übernehmen
soll: »Denn wo jeder ein besserer Talkmaster sein kann als diejenigen,
die sich Talkmaster nennen, ist auch jeder ein besserer politischer Repräsentant
seiner selbst als diejenigen, die sich selber die Repräsentanten nennen.«[214]
Dahinter steckt die im Vergleich zu Saint Simon weitergehende Utopie, daß die
Koppelung von Kunst und Lebenspraxis dazu führen soll, daß jedes Individuum auf
die Umgestaltung der Gesellschaftsordnung aktiven Einfluß nehmen
kann.
Der gesamte Komplex von Anti-Kunst, der hier untersucht
worden ist, bezieht letztlich seine Antriebsenergie aus dieser Utopie:
»eine totale Identität von Kunst und Leben«[215] herzustellen, der
sich in der Praxis immer nur angenähert wurde. Auf dieser gemeinsamen Basis,
kommen so immer neue äußerungsformen zustande, die – ob Dada, Beuys
oder Schlingensief – ihren erhobenen Anspruch zwar nie ganz erfüllen
können, aber sowohl innerhalb der Kunst wie auch im Leben Umdenkprozeße
anregen:
»Der Antikünstler sieht sich bisweilen auf ein Podest
gerückt, das er nie beansprucht hat, das er jedoch [...] einnehmen muß, weil er
ein heilsames Chaos geschaffen und zukünftige Gestalt dadaurch möglich
gemacht hat.«[216]
Als heilsames Chaos im positiven Sinn sollte man auch die
Arbeiten von Christoph Schlingensief sehen, da er – unabhängig in welchen
Medium er sich bewegt – über die Umgestaltung künstlerischer und
alltäglicher Konventionen Denkanstöße liefert, die sich wieder auf Gesellschaft
zurückführen lassen. ähnlich wie Beuys verhindert er eine Stigmatisierung
seiner Positionen durch den flexiblen Umgang mit den verschiedensten Medien und
gesellschaftlichen Bereichen, der seinen Kritikern nur den eigenen
gedanklichen Stillstand vor Augen führt:
»Die Unordnung, die Schlingensief anrichtet, möchte auch die
Grenzen niederreißen zwischen dem Leben und der Kunst, dem öffentlichen
und dem Privaten, dem Erhabenen und dem Gewöhnlichen«[217]
So lange die Utopie nicht zur Realität wird – und
davon ist nicht auszugehen –, werden auch nach Christoph Schlingensief
immer wieder andere die anti-künstlerische Idee einer gemeinsamen
Identitätsfindung von Kunst und Leben aufgreifen und in vehementer
Weise auf Leerstellen in den Systemen aufmerksam machen.
Literatur
Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph
Beuys. Leben und Werk. 3. Aufl. Köln: DuMont 1986.
Almhofer, Edith: Performance art. Die Kunst zu leben. Wien,
Köln, Graz: Böhlau 1986. [Kulturstudien: Sonderband, Bd.1]
Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik
1913-1993. Hrsg. von Christos M. Joachimidis und Norman Rosenthal. München:
Pestel 1993.
Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hrsg.): Manifeste und
Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart, Weimar:
Metzler 1995.
Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Luzern: Stocker 1946.
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1977. [Edition Suhrkamp 28].
Berg, Sybille: »Ich wäre gern der Fehlermann der Nation«.
Ein Gespräch mit dem Regisseur Christoph Schlingensief. In: Zeitmagazin. Nr. 33
(August 1996), S. 23-25.
Böhringer, Hans: Performance. In: Historisches Wörterbuch
der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 7. P-Q. Darmstadt: Wiss.
Buchgesell. 1989, S. 248.
Brandt, Sylvia: Bravo! & Bum Bum. Neue Produktions- und
Rezeptionsformen im Theater der historischen Avantgarde: Futurismus, Dada, und
Surrealismus. Eine vergleichende Untersuchung. Frankfurt/M.: Lang 1995.
[Analysen und Dokumente; Bd. 36]
Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften,
Stilperioden, Reformmodelle. Reinbeck: Rowohlt 1995.
Brief aus Wien. Denken ist Hinrichtung, Tun ist Herrichtung.
In: Kunstforum International 77/78 (1985), S. 292-297.
Briegleb, Till: 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine
Bahnhofsmission. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von
Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 97-138.
Brock, Bazon: ästhetik als Vermitttlung. Arbeitsbiographie
eines Generalisten. Hrsg. von Karla Fohrbeck. Köln: DuMont 1977.
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1974.
Burkhard, Veronika: Befreiung durch Aktionen. Die Analyse
der gemeinsamen Elemente in Psychodrama und Theater. Wien, Köln, Graz: Herman
Böhlaus 1972.
Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Herausgegeben von
Karl Riha in Zusammenarbeit mit Hanne Bergius. Stuttgart: Reclam 1991.
Diedrichsen, Diederich: Zampano des Scheiterns. Christoph
Schlingensief macht Wahlkampf am Prenzlauer Berg. In: Die Zeit (16. April
1998), S.41-42.
Dune, Wilhelm: Die Kunst und ihr Anti von Dada bis heute.
Berlin: E. Schmidt 1967.
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere
kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M.: Fischer 1994.
Freud, Sigmund: Essays I. Auswahl 1890-1914. Hrsg. von
Dietrich Simon. 3. Aufl. Berlin: Volk und Welt 1990.
Gelfert, Hans-Dieter: Die Tragödie. Theorie und Geschichte.
Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1995.
Greil, Marcus: Von Dada bis Punk – Kulturelle
Avantgardenund ihre wege aus dem 20. Jahrhundert. Hamburg: Rogner &
Bernhard 1992.
Harjes, Rainer: Handbuch zur Praxis des freien Theaters.
Lebensraum durch Lebnestraum. Köln: DuMont 1983.
Hecken, Thomas (Hrsg.): Der Reiz des Trivialen. Künstler,
Intellektuelle und die Popkultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.
Hegemann Carl: Für ein postcaritatives Theater. In:
Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried
Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 158-163.
Hegemann, Carl / Schlingensief, Christoph: Chance 2000.
Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998.
Hofmann, Werner: Die Wiener Aktionisten. In: Weltpunkt Wien.
Un regard sur Vienne 1985. Hrsg. von Robert Fleck. Wien, München: Löcker 1985,
S. 121-140.
Huelsenbeck, Richard: Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den
Spuren des Dadaismus. Hrsg. von Reinhard Nenzel. 2. Auflage. Hamburg: Edition
Nautilus 1992.
Kandinsky, Wassily. über die Formfrage. In: Essays über
Kunst und Künstler. Hrsg. von Max Bill. Bern 1973.
Karnik, Olav: Modell Schockintellektueller. In: Spex.
Magazin für Popkultur. Heft 1 (1998), S. 20-23.
Kellein, Thomas: Das Orgien Mysterien Theater des Hermann
Nitsch. In: Hermann Nitsch: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1983. Eindhoven:
Stedelijk Van Abbemuseum 1983, S. 112-119.
Kirby, Michael (Hrsg.): Happenings. An illustrated
Anthology. Dutton 1965.
Klocker, Hubert: Gestus und Objekt: Befreiung als Aktion:
Eine europäische Komponente performativer Kunst. In: Out of Actions. Aktionismus,
Body Art & Performance 1949-1979. Hrsg. von Peter Noever. Ostfildern: Cantz
1998, S. 159-195.
Koberg, Roland: Das Schlingensief-Theater. In: Schlingensief!
Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg:
Rotbuch 1998, S. 145-157.
Köcher, Helga: Herman Nitsch – Das Orgien Mysterien
Theater. 80. Aktion auf Schloß Prinzendorf. In: Kunstforum International 73/74
(1984), S. 262-279.
Kruse, R.: Interview: Christoph Schlingensief. »Die Talkshow
als Wille und Vorstellung«. In: TV Spielfilm online (www.tv-spielfim.de).
Kultermann, Udo: Leben und Kunst. Zur Funktion von
Intermedia. Tübingen: Verlag Ernst Wasmuth 1970.
Lau, Miriam: Er nervt – und alle lieben ihn. Der
Dilettant als Medienphänomen - über den Regisseur, Moderator und
Hauptdarsteller Christoph Schlingensief. In: Theater heute. Heft 5 (1998),
S. 4-10.
Lochte, Julia/Schulz, Wilfried (Hrsg.): Schlingensief!
Notruf für Deutschland. Hamburg: Rotbuch 1998.
Lucie-Smith, Edward: Die moderne Kunst.
Malerei-Fotographie-Graphik-Objektkunst. München: Südwest Verlag 1996.
Lüdke, Martin W.: ›Theorie der Avantgarde‹ Antworten auf
Peter Bürger Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1976.
Metamorphose des Dings. Kunst und Antikunst 1910-1970.
Ausstellungskatalog Kunsthalle Basel. Brüssel: La Connaissance 1971.
Moore, Barbara: Intermedia in New York: Happening und
Fluxus. In: Katalog zur Ausstellung: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert.
Malerei und Plastik 1913-1993. Hrsg. von Christos M. Joachimides und Norman
Rosenthal. München: Pestel 1993.
Müller, Maria: Aspekte der Dada-Rezeption 1950-1966. Essen:
Verlag der Blauen Eule 1987. [Kunstwissenschaft der Blauen Eule; Bd. 2]
Neiser, Engelbert: Die Kunstphilosophie Friedrich Nietzsches
und Oskar Wildes. Aachen: Phil. Diss. 1977.
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. In: Friedrich
Nietzsche. Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Ivo Frenzel. 2. Aufl.
München: Hanser 1973.
Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1983.
Eindhoven: Stedelijk Van Abbemuseum 1983.
Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1979. Die
Partituren aller aufgeführten Aktionen 1960-1979. 1. – 32. Aktion. Bd. 1.
Napoli: Studio Morra [o. J.].
Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1979. Die
Partituren aller aufgeführten Aktionen 1960-1979. 33. – 65. Aktion. Bd.
2. Hrsg. von Gerhard Jaschke in Zusammenarbeit mit Studio Morra, Neapel. Wien:
Edition Freibord 1986.
Nitsch, Hermann: Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters.
Zweiter Versuch.Salzburg, Wien: Residenz Verlag 1995.
Ohff, Heinz: Anti-Kunst. Düsseldorf: Droste 1973.
Out of Actions. Aktionismus, Body Art & Performance
1949-1979. Hrsg. von Peter Noever. Ostfildern: Cantz 1998.
Prosenc, Miklavaz: Die Dadaisten in Zürich. Bonn: Bouvier
1967.
Reizwort Nitsch. Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der
Presse 1988-1995. Hrsg. von Gerhard Jaschke. Wien: Sonderzahl 1995.
Ribemont-Dessaignes, George: Der Kaiser von China. Hrsg. von
Marcel Beyer und Karl Riha. Siegen 1995. [Vergessene Autoren der Moderne, Bd.
65/66].
Richter, Hans: Dada, Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas
zur Kunst des 20. Jahrhunderts. 4. Aufl. Köln: DuMont 1978.
Riha, Karl (Hrsg.): DADA Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen.
Stuttgart: Reclam 1991.
Riha, Karl (Hrsg.): Da Dada da war ist Dada da. Aufsätze und
Dokumente. München: Hanser 1980.
Scheer, Thorsten: Postmoderne als kritisches Konzept: Die
Konkurrenz der Paradigmen in der Kunst seit 1960. München: Fink 1992.
Schechner, Richard: Theateranthropologie. Spiel und Ritual
im Kulturvergleich. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1990.
Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Luzern, Frankfurt/M. 1978.
Schlingensief, Christoph / Hegemann, Carl: Helfen! Helfen!
Helfen! Christoph Schlingensief und Carl Hegemann schreiben einen Brief. In:
Theater heute. Heft 8/9 (1998), S. 1-2.
Schmitter, Elke: Schlingi und wie er die Welt sah. Christoph
Schlingensiefs »Bahnhofsmission - 7 Tage Notruf für Deutschland« im Deutschen
Schauspielhaus Hamburg. In: Die Zeit (24. Oktober 1997).
Schnödel, Helmut: Vater, Mutter, Hitler. Kino als Neurose:
Ein Portrait des Filmemachers Christoph Schlingensief. In: Die Zeit (6. Oktober
1989), S. 68.
Seeßlen, Georg: Vom barbarischen Film zur nomadischen
Politik. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und
Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 40-78.
Sonntag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 lit. Analysen.
Reinbeck: Rowohlt 1968.
Stahl, Enno: Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen
Moderne (1909-1933). Frankfurt: Lang 1997.
Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie.
Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt: Fischer 1995.
Strutz, Johann/Zima, Peter V. (Hrsg.): Eurpäische
Avantgarde. Frankfurt. Lang 1987.
Sucher, Bernd: Dr. Kohl in der Ufo-Krise. Volksbühne Berlin:
Schlingensiefs »Schlacht um Europa«. In: Süddeutsche Zeitung (24. März
1997).
Texte zur Theorie des Theaters. Hrsg. und kommentiert von
Klaus Lazrowicz und Christoph Balme. Stuttgart: Reclam 1991. [Universal Bibl.
8736].
Thomas, Karin: DuMonts kl. Sachwörterbuch zur Kunst des 20.
Jh. Von Antikunst bis Zero. 5. erweiterte, aktualisierte u. überarbeitete Aufl.
Köln: DuMont 1985.
Weltpunkt Wien. Un regard sur Vienne 1985.
Ausstellungskatalog. Hrsg. von Robert Fleck. Wien, München: Löcker 1985.
Wille, Franz: Neue Stücke – «Rocky Dutschke» –
der Ideologie-Terminator. In: Theater heute. Heft 7 (1996), S. 37-38.
Wörterbuch der Religionen. Hrsg. von Kurt Godammer. 2. Aufl.
Stuttgart: Kröner 1962.
Videographie:
100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im
Führerbunker. Regie: Christoph Schlingensief. 60 min. 16 mm. s/w. (1988/89).
[VHS-Kopie].
Aspekte: ZDF (24.2.1989).
Das Deutsche Kettensägenmassaker. Regie: Christoph
Schlingensief. 60 min. 35 mm (1990). [VHS-Kopie].
Die Kultur als Gegenstand der Kunst: WDR (16.8.1981).
Die Rache des Intellekts: WDR (4.11.1989).
Kunst als Medizin: WDR (13.12.1983).
Kunst und Ketchup: SW3 (31.5.1992).
Rocky Dutschke '68. Videoaufzeichnung des Theaterstücks an
der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz vom 6. und 18. Juni 1996.
Schlacht um Europa I-XLII. Ufokrise '97: Raumpatrouille
Schlingensief. Videoaufzeichnung des Theaterstücks an der der Berliner
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Talk 2000. Achtteilige Fernsehtalkshow. Produziert von Kanal
4. Moderation: Christoph Schlingensief. (1997).
Terror 2000. Regie: Christoph Schlingensief. 80 min. 35 mm
(1992). [VHS-Kopie].
ZAK: WDR (24.3.1989)
[1] Lau, Miriam: Er nervt – und alle lieben ihn. Der Dilettant als Medienphänomen - über den Regisseur, Moderator und Hauptdarsteller Christoph Schlingensief. In: Theater heute. Heft 5 (1998), S. 10.
[2] Die Kontraktion aus »avant« (dt: vor) und »garde« (dt: Wache) bezeichnet im Französischen die »Vorhut« oder den »Vorkämpfer«.
[3] Metzler Literatur Lexikon. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. Zweite, überarbeitete Aufl. Stuttgart: Metzler 1990, S. 36.
[4] Ohff, Heinz: Anti-Kunst. Düsseldorf: Droste 1973, S. 8.
[5] Ebd., S. 8.
[6] Oskar Schlemmer und die abstrakte Bühne. Katalog der Ausstellung am Kunstgewerbemuseum Zürich. Zürich 1961, S. 8.
[7] Stahl, Enno: Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909-1933). Frankfurt: Lang 1997, S. 19.
[8] Stahl (1997), S. 19.
[9] Ohff (1973), S. 11.
[10] Stahl (1997), S. 14.
[11] Vgl. Stahl (1997), S. 14.
[12] Ebd., S. 15.
[13] Ebd., S. 19.
[14] Vgl. Ohff (1973), S. 11.
[15] Ohff (1973), S. 10.
[16] Kandinsky, Wassily. über die Formfrage. In: Essays über Kunst und Künstler. Hrsg. von Max Bill. Bern 1973, S. 19.
[17] Stahl, (1997), S. 42.
[18] Titelformulierung von Manfred Brauneck. Vgl. Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbeck: Rowohlt 1995, S. 9.
[19] Stahl, (1997), S. 36.
[20] Strutz, Johann/Zima, Peter V. (Hrsg.): Eurpäische Avantgarde. Frankfurt. Lang 1987, S. 25.
[21] Strutz/Zima (1987), S. 24.
[22] Strutz/Zima (1987), S. 26.
[23] Vgl. hierzu: Strutz/Zima (1987), S. 24, die zwar ihren Blickwinkel hauptsächlich auf die literarischen Avantgarden ausgerichtet haben, deren überlegungen sich aber dennoch auf das gesamte Kunstsystem projezieren lassen .
[24] Zitiert nach: Strutz/Zima (1987), S. 26.
[25] Ohff (1973), S. 14.
[26] Strutz/Zima (1987), S. 28.
[27] Vgl hierzu: Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. (1974) und Lüdke, Martin W.: ›Theorie der Avantgarde‹ Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976.
[28] Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt: Fischer 1995, S. 567.
[29] Brandt, Sylvia: Barvo! & Bum Bum. Neue Produktions- und Rezeptionsformen im Theater der historischen Avantgarde: Futurismus, Dada, und Surrealismus. Eine vergleichende Untersuchung. Frankfurt/M.: Lang 1995, S. 70.
[30] Marinetti, F. T.: Manifest des Futurismus. In: Walter Fähnders/Wolfgang Asholt (Hrsg.): Manifeste und Proklamatione der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 5.
[31] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. [Edition Suhrkamp 28], S. 22.
[32] Ohff (1973), S. 16.
[33] Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbeck: Rowohlt 1995, S. 63f.
[34] Brandt (1995), S. 27.
[35] Marinetti, F. T.: Manifest der futuristischen Bühnendichter. In: Walter Fähnders/Wolfgang Asholt (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 19.
[36] Marinetti, F. T.: Gründung und Manifest des Futurismus (1909). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 5.
[37] Ebd., S. 5.
[38] Diesen Begriff verwendet Sylvia Brandt in einer Kapitelüberschrift ihrer Untersuchung Barvo! & Bum Bum. Neue Produktions- und Rezeptionsformen im Theater der historischen Avantgarde: Futurismus, Dada, und Surrealismus. Eine vergleichende Untersuchung. Frankfurt/M.: Lang 1995, S. 21.
[39] Brandt (1995), S. 24.
[40] Stahl (1997), S. 76.
[41] Marinetti, F. T.: Manifest der futuristischen Bühnendichter (1911). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 19.
[42] Marinetti, F. T./Settimelli, E./Corra, B.: Das futuristische synthetische Theater (1915). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 93.
[43] Marinetti, F. T.: Manifest der futuristischen Bühnendichter (1911). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 19.
[44] Ebd., S. 20.
[45] Brandt (1995), S. 80.
[46] Brandt (1995), S. 31.
[47] Marinetti, F. T.: Das Variet� (1912). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 60.
* die nachfolgende Passage des Zitats ist in der Vorlage kursiviert und wird aus diesem Grund originalgetreu formatiert.
[48] Marinetti, F. T./Settimelli, E./Corra, B.: Das futuristische synthetische Theater (1915). In: Fähnders/Asholt (1995), S. 93.
[49] Brandt (1995), S. 108.
[50] Brandt (1995), S. 97.
[51] Brandt (1995), S. 125.
[52] Richter, Hans: Dada, Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts. 4. Aufl. Köln: DuMont 1978, S. 11.
[53] Harjes, Rainer: Handbuch zur Praxis des freien Theaters. Lebensraum durch Lebenstraum. Köln: DuMont 1983, S. 55.
[54] Hajes (1983), S. 56.
[55] Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Luzern: Stocker 1946, S. 4.
[56] Ball (1946), S. 85.
[57] Brandt (1995), S. 65.
[58] So zum Beispiel die im nächsten Kapitel zu behandelnden Performance-, Aktionskunst- und Fluxus-Bewegungen der sechziger/siebziger Jahre oder in der bildenden Kunst die Aktionen des Land-Art Künstlers Richard Long.
[59] Brandt (1995), S. 125f.
[60] Brandt (1995), S. 42.
[61] Hecken, Thomas: Kunst und/oder Leben. In: Thomas Hecken(Hrsg.): Der Reiz des Trivialen. Künstler, Intellektuelle und die Popkultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 115.
[62] Huelsenbeck, Richard: Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus. Hrsg. von Reinhard Nenzel. 2. Auflage. Hamburg: Edition Nautilus 1992, S. 103.
[63] Huelsenbeck (1992), S. 102.
[64] Vgl. Riha, Karl (Hrsg.): DADA Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Stuttgart: Reclam 1991, S. 170 oder Huelsenbeck, Richard: Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus. Hrsg. von Reinhard Nenzel. 2. Auflage. Hamburg: Edition Nautilus 1992, S. 100.
[65] Hecken (1997), S. 115.
[66] Schlingensief hat sich auf der Documenta X vor den Haupteingang des Gebäudes mit einem Transparent - auf dem der Satz "Tötet Helmut Kohl" zu sehen war - gestellt und wurde daraufhin von der Polizei verhaftet.
[67] Auch das heutige Kabarett ist weitgehend unabhängig von Bühnenbild, Dramaturg, Schauspielern oder Theaterhäusern. Der Künstler ist gleichzeitig Darsteller und Regiesseur seines eigenen Textes, den er auf der Bühne präsentiert.
[68] Huelsenbeck (1992), S. 104 f.
[69] Ebd., S. 104.
[70] Ebd.
[71] Brandt (1995), S. 136.
[72] Huelsenbeck (1992), S. 104.
[73] Brandt (1995), S. 143.
[74] Ball (1946), S. 89f.
[75] Craig, Edward Gordon: Der Mensch und die über-Marionette. Zitiert nach: Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbeck: Rowohlt 1995, S. 59.
[76] Ebd.
[77] Ball (1946), S. 90f.
[78] Brandt (1995), S. 164.
[79] Brandt (1995), S. 167.
[80] Böhringer, Hans: Performance. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 7. P-Q. Darmstadt: Wiss. Buchgesell. 1989, S. 247.
[81] Moore, Barbara: Intermedia in New York: Happening und Fluxus. In: Katalog zur Ausstellung: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993. Hrsg. von Christos M. Joachimides und Norman Rosenthal. München: Pestel 1993, S. 125.
[82] Moore (1993), S. 125.
[83] Lucie-Smith, Edward: Die moderne Kunst. Malerei-Fotographie-Graphik-Objektkunst. München: Südwest Verlag 1996, S. 392.
[84] Vgl. Ohff (1973), S. 86.
[85] Ohff (1973), S. 90.
[86] Neben der Parallele, die Ohff zwischen den Dada-Aktionen und Happening sieht, verweist er in seiner Argumentation auf das Klima einer anarchisch politisierten Jugendkultur der sechziger Jahre, die in der Außerparlamentarischen Opposition und Studentenrevolte eine direkte Beziehung zu der neuen künstlerischen Ausdrucksform der Aktionskunst findet.
[87] Almhofer, Edith: Performance art. Die Kunst zu leben. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1986. (Kulturstudien: Sonderband, Bd.1), S. 12. Vgl. auch die Parallelen zu den futuristischen Auführungen und dem dadaistischen Kabaret, die Edward Lucie-Smith in seinem Aufsatz zu Happening und Environment (Edward Lucie-Smith: Die moderne Kunst. Malerei-Fotographie-Graphik-Objektkunst. München: Südwest Verlag 1992, S. 391-417) zieht. Auch er sieht die Aktionskunst-Bewegung als direkte Anknüpfung an die Ideen der historichen Avantgarde
[88] Vgl. Michael Kirby: Happenings. An illustrated Anthology. Dutton 1965, S. 53-83.
[89] Kirby (1965), S. 54.
[90] Kirby (1965), S. 61.
[91] Kunst und Ketchup: SW3 (31.5.1992). Die folgenden Zitate der Künstler sind alle dieser Dokumentation über Pop Art und Happening entnommen. Der Titel soll im Folgenden mit KuK abgekürzt werden.
[92] Vgl. Ohff (1973), S. 94 f. Ohff charakterisiert Vostells Dogs and Chinese not allowed von 1966 als das einzige Happening, »daß wirklich auf sozialkonstruktive Ziele« ausgelegt war. (S. 96).
[93] Vgl. KuK.
[94] Vgl. KuK.
[95] Vgl. KuK.
[96] Vgl. KuK.
[97] Ohff (1973), S. 96.
[98] Almhofer (1986), S. 12.
[99] Ohff (1973), S. 96.
[100] Der Zusammenschluß der österreichischen Künstler H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Beyer, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner zur Wiener Gruppe bedarf einer eigenen Betrachtung, die im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht leistbar ist. Gerade die neuere Forschung und der österreichische Pavillon auf der Biennale 1997 in Venedig haben gezeigt, daß dierGruppe in einer isolieren Betrachtung der avantgardistischen Nachkriegstendenzen, eine gleichberechtigte Stellung neben den heute wissenschaftlich etablierten amerikanischen und europäischen Bewegungen eingräumt werden muß.
[101] Ohff (1973), S. 101.
[102] Almhofer (1986), S. 8.
[103] Vgl. KuK.
[104] Ohff (1973), S. 96.
[105] Dies meint natürlich nicht Stücke wie Warten auf Godot von S. Beckett, das im Umgang mit dem Thema Zeit eine teilweise vergleichbare Wahrnehmungsbeeinflussung verfolgt.
[106] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. [Edition Suhrkamp 28], S. 33.
[107] Benjamin (1977), S. 33.
[108] Almhofer (1986), S. 8.
[109] Lucie-Smith (1996), S. 400.
[110] Aus dem zuvor hergestellten Zusammenhang zwischen Benjamins These der »simultanen Kollektivrezeption« und dem Happening resultieren zwei Problemstellungen, die an anderer Stelle zu diskutieren wären. Sein Ansatz basiert auf der Grundannahme, daß das Medium Film gerade durch seine technische Vervielfältigung einem Massenpublikum zur Rezeption zugänglich wird. Dies trifft auf das Happening nicht zu, da es – als Ganzes betrachtet – technisch nicht reproduzierbar ist. Eine Wiederholung der Aktionen würde sich im Detail immer von der Vorhergehenden unterscheiden, während der materielle Träger des Films unendlich oft reproduzierbar ist. Der andere Aspekt betrifft seine These zur Reaktion des Publikums: "Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich." (S. 33) Es ist zweifelhaft, ob man dies als Grundannahme voraussetzen darf, da durch die passive Rezeptionssituation im Kino bedingt, Reaktionen kollektiv ausbleiben oder nur im Privaten zwischen Einzelnen (in Analogie zum Theater) stattfinden können.
[111] Benjamin (1977), S. 17.
[112] Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. In: Friedrich Nietzsche. Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Ivo Frenzel. 2. Aufl. München: Hanser 1973, S. 9.
[113] Kultermann, Udo: Leben und Kunst. Zur Funktion von Intermedia. Tübingen: Verlag Ernst Wasmuth 1970.
[114] Kultermann (1970), S. 107.
[115] Im Folgenden als OMT abgekürzt.
[116] Klocker, Hubert: Gestus und Objekt: Befreiung als Aktion: Eine europäische Komponente performativer Kunst. In: Out of Actions. Aktionismus, Body Art & Performance 1949-1979. Hrsg. von Peter Noever. Ostfildern: Cantz 1998, S. 170.
[117] Klocker (1998), S. 183.
[118] Vgl. Werner Hofmann: Die Wiener Aktionisten. In: Weltpunkt Wien. Un regard sur Vienne 1985. Hrsg. von Robert Fleck. Wien, München: Löcker 1985, S. 121 ff.
[119] Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1979. Die Partituren aller aufgeführten Aktionen 1960-1979. 1. – 32. Aktion. Bd. 1. Napoli: Studio Morra [o. J.], S. 28
[120] Ebd., S. 29.
[121] Ebd.
[122] Die Bezeichnung Abreaktionsspiel gebraucht Nitsch vorallem für die zahlreichen Einzelaktionen, die in den sechziger Jahren durchgeführt werden. Vgl. dazu Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1979. Die Partituren aller aufgeführten Aktionen 1960-1979. 1. – 32. Aktion. Bd. 1. Napoli: Studio Morra [o. J.], S. 142.
[123] Ebd., S. 38.
[124] Ebd., S. 47.
[125] Brief aus Wien. Denken ist Hinrichtung, Tun ist Herrichtung. In: Kunstforum International Bd. 77/78. Heft 9-10 (1985), S. 292.
[126] Der öffentliche Widerstand gegen eine Institutionalisierung als Künstler kulminiert in einem Bericht der Sendung titel, thesen, tempramente von 1989, die ihn mit archiviertem Filmmaterial der Vergewaltigung an einer seiner Darstellerinnen überführt haben will. Schließlich war der Einfluß konservativer Teile der Politik stark genug eine Verbeamtung an der Städelschule zu verhindern, so daß Nitsch bis heute dort nur einen zeitlich befristeten Anstellungsstatus inne hat.
[127] Texte zur Theorie des Theaters. Hrsg. und kommentiert von Klaus Lazrowicz und Christoph Balme. Stuttgart: Reclam 1991. [Universal Bibl. 8736], S. 672 f.
[128] Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1983. Eindhoven: Stedelijk Van Abbemuseum 1983, S. 5.
[129] Texte zur Theorie des Theaters (1991), S. 673.
[130] Nitsch (1983), S. 5.
[131] Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 31.
[132] Ebd.
[133] Wörterbuch der Religionen. Hrsg. von Kurt Godammer. 2. Aufl. Stuttgart: Kröner 1962, S. 403.
[134] Ebd.
[135] Nitsch (1983), S. 5.
[136] Schechner, Richard: Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1990, S. 94 f.
[137] Nitsch [o. J.], S. 23.
[138] Kellein, Thomas: Das Orgien Mysterien Theater des Hermann Nitsch. In: Hermann Nitsch: Das Orgien Mysterien Theater 1960-1983. Eindhoven: Stedelijk Van Abbemuseum 1983, S. 112.
[139] Burkhard, Veronika: Befreiung durch Aktionen. Die Analyse der gemeinsamen Elemente in Psychodrama und Theater. Wien, Köln, Graz: Herman Böhlaus 1972, S. 55.
[140] Vgl. Gelfert, Hans-Dieter: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht (1995), S. 15-17 oder Burkhard, Veronika: Befreiung durch Aktionen. Die Analyse der gemeinsamen Elemente in Psychodrama und Theater. Wien, Köln, Graz: Herman Böhlaus 1972, S. 55-58.
[141] Texte zur Theorie des Theaters (1991), S. 673.
[142] Ebd.
[143] Kultermann (1970), S. 137.
[144] Nitsch (1983), S. 6.
[145] Texte zur Theorie des Theaters (1991), S. 676.
[146] Ebd., S. 674.
[147] Ebd., S. 676f.
[148] Vgl. Freud, Sigmund: Essays I. Auswahl 1890-1914. Hrsg. von Dietrich Simon. 3. Aufl. Berlin: Volk und Welt 1990, S. 109.
[149] Texte zur Theorie des Theaters (1991), S. 675.
[150] Ebd., S. 675f.
[151] Ebd., S. 677.
[152] Kultermann (1970), S. 101.
[153] Ebd., S. 107.
[154] Nitsch [o. J.], S. 19.
[155] Ebd.
[156] Ebd., S. 20.
[157] Ebd.
[158] Ebd., S. 22.
[159] Köcher, Helga: Herman Nitsch – Das Orgien Mysterien Theater. 80. Aktion auf Schloß Prinzendorf. In: Kunstforum International 73/74 (1984), S. 265.
[160] Ebd.
[161] Nitsch [o. J.], S. 21.
[162] Kultermann (1970), S. 137.
[163] Seeßlen, Georg: Vom barbarischen Film zur nomadischen Politik. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 44.
[164] Ebd., S. 55.
[165] Lochte, Julia/Schulz, Wilfried (Hrsg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 168.
[166] Seeßlen (1998), S. 56.
[167] Ebd., S. 50.
[168] Ebd., S. 44.
[169] Koberg, Roland: Das Schlingensief-Theater. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 148.
[170] Koberg (1998), S. 146.
[171] Vgl. Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998.
[172] Hegemann/Schlingensief (1998), S. 83.
[173] Koberg (1998), S. 156.
[174] Hegemann/Schlingensief (1998), S. 37.
[175] Seeßlen (1998), S. 50.
[176] Hegemann Carl: Für ein postcaritatives Theater. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 158-163.
[177] Ebd., S. 158.
[178] Ebd., S. 159.
[179] Vgl. Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 103.
[180] Karnik, Olav: Modell Schockintellektueller. In: Spex. Magazin für Popkultur. Heft 1 (1998), S. 22.
[181] Koberg (1998), S. 148.
[182] Ebd., S. 153.
[183] Koberg (1998), S. 157.
[184] Koberg (1998), S. 151.
[185] Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 79.
[186] Das Thema Talkshow greift Schlingensiefs eineinhalb Jahre später wieder auf und produziert in Zusammenarbeit mit Kanal 4 selbst eine Talkshow (Talk 2000), die seine Vorbehalte gegenüber dem Medium deutlich macht.
[187] Kruse, R.: Interview: Christoph Schlingensief. »Die Talkshow als Wille und Vorstellung«. Aus: TV Spielfilm online (www.tv-spielfim.de).
[188] Wille, Franz: Neue Stücke – «Rocky Dutschke» – der Ideologie-Terminator. In: Theater heute. Heft 7 (1996), S. 37.
[189] Ebd., S. 38.
[190] Zum Stand dieser Arbeit die aufwendigste Produktion des Hollywood-Kinos.
[191] Hegemann (1998), S. 159.
[192] Briegleb, Till: 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission. In: Schlingensief! Notruf für Deutschland. Hrsg. von Julia Lochte und Wilfried Schulz. Hamburg: Rotbuch 1998, S. 102.
[193] Zum Zweck der besseren übersichtlichkeit sei erwähnt, daß der vollständige Titel der Aktion heißt »Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission« lautet. Im Folgenden werden für die Bezeichnung der Aktion Abkürzungen gebraucht, die nur den Titel oder die beiden Untertitel zitieren.
[194] Hegemann (1998), S. 158.
[195] Briegleb (1998), S. 100.
[196] Ebd., S. 103.
[197] Ebd., S. 110-111.
[198] Ebd., S. 110.
[199] Ebd., S. 119.
[200] Dieses Zitat nach Bert Brecht wird nach der Melodie von Al Jolson »Let me sing and I am happy« von der Schlingensief-Truppe zu vielen Gelegenheiten angestimmt.
[201] Vgl. Briegleb (1998), S. 120.
[202] Briegleb (1998), S. 126.
[203] Ebd., S. 122.
[204] Seeßlen (1998), S. 44.
[205] Vgl. Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998.
[206] Lau, Miriam: Er nervt – und alle lieben ihn. Der Dilettant als Medienphänomen - über den Regisseur, Moderator und Hauptdarsteller Christoph Schlingensief. In: Theater heute. Heft 5 (1998), S. 10.
[207] Ohff (1973), S. 170.
[208] Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph Beuys. Leben und Werk. 3. Aufl. Köln: DuMont 1986, S. 9.
[209] Ebd., S. 8f.
[210] Ebd., S. 9.
[211] Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 80.
[212] Hegemann, Carl/Schlingensief, Christoph: Chance 2000. Wähle dich selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 83.
[213] Ebd., S. 80.
[214] Seeßlen (1998), S. 73.
[215] Kultermann (1970), S. 106.
[216] Ohff (1973), S. 174.
[217] Seeßlen (1998), S. 56.